Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik
Es gibt Bücher, die schon längst hätten geschrieben sein müssen – Bücher, auf die eine schon lange gewartet hat. Die Dissertation der Kommunikationswissenschaftlerin Susanne Kinnebrock über Leben und Werk Anita Augspurgs ist ein solches Buch. Die Feministin Anita Augspurg, exponierte und leidenschaftliche Vertreterin des radikalen Flügels der bürgerlichen Alten Frauenbewegung gehörte zu den ersten, die in den frühen Jahren der historischen Schwesternsuche der Neuen Frauenbewegung entdeckt wurde – sicherlich auch durch die überlieferten und in den siebziger Jahren erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen „Erlebtes – Erschautes“ ihrer Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann (1868-1943). Dennoch dauerte es bis 2004, als die nun vorliegende umfangreiche politische Biographie und Werkanalyse erschien: rund 600 Seiten Text plus wertvolle Zeittafel und hilfreiches Personenverzeichnis zwischen zwei schön gestalteten orange-roten Buchdeckeln.
Mit ihrer Untersuchung „Anita Augspurg (1857-1943) Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie“ verfolgt Susanne Kinnebrock mehrere hochgesteckte Ziele: Erstens will sie Augspurgs politisches und journalistisches Wirken einschließlich deren Resonanz würdigen, zweitens will sie einige Einschätzungen der Frauenbewegungsgeschichte korrigieren, drittens die von Augspurg herausgegebenen Zeitschriften porträtieren und kontextualisieren, viertens einen Mosaikstein für die noch zu schreibende Geschichte von Journalistinnen beisteuern und nicht zuletzt fünftens „die Geschichte gerade von Frauen ein Stück weit rekonstruieren“. Zu diesem Zweck hat sie in einer beeindruckenden Recherche eine Fülle von (Archiv-)Material zusammengetragen, ausgewertet und aufbereitet. Um die verschiedenen Rollen und Funktionen Anita Augspurgs im (massen)kommunikativen Prozess sowie im Wechselverhältnis mit „öffentliche[n] Stimmungen und Medienresonanz“ analysieren zu können, wählt die Autorin eine kommunikationshistorisch biographische Herangehensweise.
50 Jahre lang stand Anita Augspurg „im Licht der Öffentlichkeit“. Sie machte Politik für feministische, demokratische und/oder pazifistische Ziele. Als zentrale Kontinuitätslinie ihres Engagements ist, so Susanne Kinnebrock, ihr Glauben an die Demokratie erkennbar – trotz kurzer Ausflüge in sozialistische Kapitalismuskritik, ihr Plädoyer für ein Rätemodell und ihre gescheiterte Kandidatur auf einer Liste der USPD. Warum Kinnebrock als Kontinuität nicht auch die feministische Perspektive Augspurgs miteinbezieht, bleibt unklar.
Mit ihren öffentlichen Auftritten und Artikeln wollte Anita Augspurg „politisch wirken“, wobei sie „schwerpunktmäßig“ „Öffentlichkeitsarbeit“ betrieb. Dabei richtete sie sich nicht nur an die breite Öffentlichkeit, wie sie etwa die Tagespresse bildete, sondern auch an verschiedene, z.B. frauenbewegungsinterne Teilöffentlichkeiten.
Die Themen und Positionen der Bürgerstochter, die sich als Lehrerin und Schauspielerin ausbilden liess und später die erste promovierte Juristin Deutschlands wurde, riefen unterschiedliches Echo hervor: etwa die Einrichtung des ersten Mädchengymnasiums in Karlsruhe 1893 oder ihr Aufruf zum Eheboykott 1905. Nicht immer standen ihre feministischen Schwestern hinter ihr: etwa als sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann, die militanten Suffraggetten verteidigte, was die beiden weitgehend isolierte. Oder als sie auf der Suche nach Kompromissen im „schlimmen Schwesternkrieg“ (Johanna Elberskirchen) über die Frage der Aufhebung des Dreiklassenwahlrechts zum sog. Damenwahlrecht schwenkte. Mehr noch stand sie mit ihrem radikal-pazifistischen Engagement z.B. in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit im Abseits selbst des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung.
Überzeugend arbeitet die Autorin auch problematische Punkte im Denken Anita Augspurgs heraus: beispielweise ihre Orientierung an Evolution und Natur in einem Text von 1911, als sie – wohl beeinflusst von ihrer Freundin – sich eugenischen/rassenhygienischen Positionen näherte und „körperliche Eigenschaften wie Stärke, Gesundheit und Durchsetzungskraft“ zum Ausgangspunkt für heterosexuelles Zusammenleben machte, während sie in ihrem Kampf gegen das Bürgerliche Gesetzbuch das Recht des Stärkeren noch scharf kritisiert hatte. Nicht nur an solchen Stellen zeigt sich die Analysestärke des Buches, fraglos schon ob seines Umfangs nicht ‘in einem Rutsch’ durchlesbar – wofür auch eine bettschmökerfreundliche 2-bändige Fassung notwendig wäre… Es ist eine spannend geschriebene (Werk-)Biografie, die immer wieder auf’s Neue zum Stöbern und Lesen einzelner thematischer Abschnitte über die Geschichte/n einer außergewöhnlichen Feministin einlädt.
Noch einmal konkret zu Anita Augspurgs letzten Lebensjahren: Die Exilerfahrung in der Schweiz setzten ihr von Beginn an zu: „Man kugelt wie ein Bündel Flicken in der Welt herum und weiß nicht wohin man gehört. Nur daß wir zwei zueinander gehören, wissen wir und sind froh darum,“ schrieb sie 1933 an Lida Gustava Heymann, die in Genf weilte und ihr schließlich nach Zürich folgte. Anita Augspurg plagten verschiedene Krankheiten, Heymann pflegte sie, spielte aber, so Susanne Kinnebrock die Altersdemenz ihrer Freundin herunter. Sie vermutet, dass alle nach 1938 mit „Anilid“ signierten oder maschinenschriftlich mit Anita Augspurg unterzeichneten Dokumente ihres friedenspolitischen Engagements „weder von Augspurg stammten noch tatsächlich von ihr wahrgenommen wurden“. Im Juli 1943 starb Lida Gustav Heymann an Krebs und Anita Augspurg „folgte ihrer Freundin am 20. Dezember 1943“. Auf dem Züricher Friedhof in Fluntern weihten Schweizer Feministinnen fünfzig Jahre später eine Gedenktafel für die beiden Frauen ein (Grab FG 80699).
Christiane Leidinger
Susanne Kinnebrock: Anita Augspurg (1857-1943) Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikations- historische Biographie, Centaurus