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Draußen
fällt Schnee.
Ich sitze mit Kopfschmerzen in meiner Küche und sehe aus dem Fester. Es ist
der Nachmittag des Heiligen Abends, und mir geht es miserabel. Meine Freundinnen
nennen mich den Weihnachtsteufel. Ich weiß ja auch nicht, warum ich anders
bin als sie. Ich kann Weihnachten eben nicht leiden. Ich habe absichtlich das Radio
nicht angedreht, weil mir unweigerlich zarte Engelschöre oder feierliche Trompetenmusik
entgegenschallen würden.
Weihnachten sei das Fest der Liebe. So wollen es mir alle Zeitschriften und die Werbespots
im Fernsehen jedenfalls mit goldenen Buchstaben und süßen Klängen
eintrichtern. Dass ich nicht lache! Und auch ein Wunder ist mir am heiligen Abend
noch nicht passiert.
Dieses Schneegestöber! Ich meine, es sieht ja ganz hübsch aus, wie meine
Auffahrt langsam einen halben Meter hoch zuschneit, aber ich muss gleich noch mit
dem Auto raus, um die Getränke für die Feier heute abend einzukaufen. Ich
lege die Fingerspitzen genervt an die Schläfen. Manchmal ist es ja nett, auf
dem Lande zu wohnen, zumal, wenn es nur eine halbe Stunde von Berlin entfernt ist.
Man hat seine Ruhe, und wenn man ein wenig Spaß will, ist man ñ husch! ñ in
der Großstadt. Jetzt aber pfeife ich auf die Dorfidylle. Ich muß zehn
Kilometer bis zum nächsten Supermarkt fahren.
Verdammt, es hätte so schön sein können heute abend. Ich hätte
mir ein gemütliches Video aus der Videothek um die Ecke ausgeliehen, "Alien
4" zum Beispiel oder so einen richtig fetzigen Actionfilm, in dem alle zwei
Minuten ein Auto oder ein Haus explodiert. Und kein Engelschor weit und breit. Ich
seufze ein bisschen. Ach, keine versteht mich!
Statt dessen muss ich nun meine Wettschuld vom letzten Jahr einlösen, und dieses
verdammte Weihnachtsfest für alle meine Freundinnen veranstalten. Gott ñ und
ich hasse Weihnachten!
Wenn ich daran denke, dass in ein paar Stunden das ganze Theater losgehen wird, (wahrscheinlich
wollen alle beschauliche Weihnachtslieder singen, und garantiert hat jemand Stollen
mitgebracht!) ja, wenn ich daran denke, dann möchte ich mich am liebsten ins
nächste Flugzeug nach Australien setzen, um mich irgendwo hinter Eukalyptusbäumen
und in dem Gekreische exotischer Vögel zu verkriechen. Dort hört man wenigstens
keine Engelschöre.
Weihnachten!
Ich ziehe die Jacke über und verlasse das Haus.
Während ich die Auffahrt freischaufle, denke ich über Weihnachten nach.
Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich, dass Weihnachten eine gefährliche,
eine absolut unterschätzte Droge ist, die irgend jemand in die Luft gepumpt
hat, wahrscheinlich ein paar Wirtschaftskonzerne, deren Namen ich jetzt wohlweislich
verschweige, eine Droge, die alle Menschen um mich ab dem ersten Advent einatmen
und die etwa einen Monat lang, glückseligmachend, in ihrem Blute schwimmt. Und
ich ñ ich bin die einzige, die aus irgendwelchen Gründen immun dagegen ist.
Es ist eine heimtückische Droge, die bei all meinen Freundinnen, sogar bei den
echt toughen, plötzlich diesen blödsinnig verklärten Blick hervorruft.
Ich glaube, diese Droge, die den Verstand riesiger Bevölkerungsmassen für
einen Monat lahmlegt, wird mächtig unterschätzt.
Denn seien wir doch mal ehrlich: Wann sonst kommt irgend jemand auf die Idee, Unmengen
eigentlich leckeren Rotweins auf dem Herd warmzumachen(!) und ihn mit Backzeug wie
Zucker, Zimt und Nelken, ja sogar mit diversen Südfrüchten zu verpfuschen?
Das ist ja widerlich! Wann sonst kommen Leute auf so abwegige Ideen, tote Bäume
zu kaufen und sich diese ins Zimmer zu stellen, um sie dann mit merkwürdigen,
zerbrechlichen Gerätschaften aus Glas, sowie Schokoladenfiguren zu schmücken?
Ganz zu schweigen von der Manie einer englischen Freundin, die allweihnachtlich eine
Wäscheleine quer durch ihr Zimmer spannt und dann ihre Socken daranhängt,
damit irgend so ein alter Mann, der angeblich nachts durch den Kamin in ihr Zimmer
steigt, Süßigkeiten hineinsteckt. Also mal ehrlich ñ Süßigkeiten
in alten Socken! Aber auch meine deutschen Freundinnen haben ähnliche morbide
Ideen. Pünktlich am sechsten Dezember stellen sie ihre Stiefel vor die Tür,
um sie am nächsten Tag lebkuchengefüllt wieder einzusammeln. Na dann: Guten
Appetit! Also, ich kann das einfach nicht verstehen. Wieso kriegt denn kein Mensch
außer mir mit, dass alle verrückt werden?
Letztes Jahr habe ich eine Wette verloren. Alle meine Freundinnen wissen ja, was
ich von Weihnachten halte, und dass ich am Heiligen Abend eben viel, viel lieber
mein Zimmer tapezieren würde oder das alte Moped reparieren, und dass ich mit
Vorliebe an den Weihnachtstagen bei Pizza Hut essen gehe, als mir das ganze Weihnachtsspektakel
anzutun. Und aus Boshaftigkeit haben sie als Wetteinsatz verlangt, ich ñ der Weihnachtsteufel
ñ solle die diesjährige Weihnachtsfeier organisieren.
Ich setze mich ins Auto und fahre los. Der Schnee knirscht unter den Rädern.
Reflexartig stelle ich das Autoradio an und würge es sofort wieder ab, als mir
Glockengeläut entgegenbimmelt. Verdammt. Es hätte so ein schöner Abend
werden können.
Aber trotzdem. Ich lasse mich doch nicht so einfach überrollen! Wenn ich an
meine Vorbereitungen für heute abend denke, muss ich sogar ein bisschen lächeln.
Man muss diesen Verrückten einfach mal zeigen, wie verrückt sie eigentlich
sind. Unter großen Mühen habe ich gestern die ohnehin morsche Eiche aus
meinem Vorgarten abgeschlagen und sie ächzend in die Stube geschleppt, habe
sie mit Lametta hübsch geschmückt und die Äste ñ aus Ermangelung an
gläsernen Gerätschaften und schokoladigen Figuren ñ kurzerhand mit entzückenden
kleinen Babyball-Käsebällchen und mit ein paar wirklich dekorativen Miniaturleberwürsten
behängt. Die Kerzen dazwischen ñ es ist wirklich wunderschön! Und es ist
nicht minder verrückt als eine glaskugelbehängte Tanne, Fichte oder Kiefer.
Da ich Spekulatius und Dominosteine aus Prinzip nicht kaufe, steht bereits eine deftige
Käse-Sauerkraut-Rote-Beete-Platte zum Naschen im Kühlschrank. Denn was
soll eigentlich diese Bevorzugung bestimmter Lebensmittel zu Weihnachten?
So, da ist endlich der Supermarkt. Schon an der Eingangstür brüllt mir
ein lebensgroßer Pappweihnachtsmann ein unangenehm gutgelauntes "Ho, ho,
hooh ñ Fröhliche Weihnachten!" entgegen. Ich flüchte schnell in die
Halle, doch dort erwarten mich schon die unvermeidlichen Engelschöre aus den
Lautsprechern, unterbrochen nur von einer süßtönenden Stimme, die
dezent auf glücklich gemästete Weihnachtsgänse in den großen
Tiefkühltruhen am Ende des Ganges hinweist. Hilfe! Außerdem ist es entsetzlich
voll. Überall stoße ich an Einkaufswagen. Entschuldigend sehe ich in lauter
hektische, fiebrige Gesichter, in Augen, weitgeöffnet wie im Irrsinn, Augen,
die gierig die sich leerenden Regale abgrasen, Blicke, die eine wilde Entschlossenheit
verraten, für den letzten Dresdener Stollen dort im Regal oder für dieses
Päckchen Glühweingewürz da hinten zu kämpfen wie ein verhungernder
Wolf. Mich schaudert. Wohin ich auch blicke ñ kein einziges Gesicht lächelt.
Überall herrscht dieser Zombieblick.
Schnell suche ich die Getränke für heute abend zusammen und schiebe den
Einkaufswagen zur Kasse. Eine endlose Schlange verspricht eine beschauliche Wartestunde.
Es geht sehr langsam voran. Und als ich schließlich an der Kasse stehe, ist
mir, als hätte auch mein Gesicht schon diesen genervten Zombieausdruck angenommen.
Ich stelle die Flaschen auf das Band und sehe dann hoch. Und da erstarre ich. Und
plötzlich scheint etwas ganz tief in meinem Innern zu schmelzen. Der ganze Widerwillen
dieses Tages sackt plötzlich in sich zusammen wie ein Schneemann in der Sonne,
als ich in das ungewöhnlich offene, in das völlig entspannt lächelnde
Gesicht der jungen Kassiererin sehe. Ich erwidere ihren Strahleblick mit einem breiten
Grinsen, und sie entblößt ihre Zähne vor Freude. Mein Gott! Es gibt
also doch noch jemanden auf dieser Welt, dem dieser Weihnachtsvirus nichts anzuhaben
scheint. Ich schaue kurz auf ihr Namensschild an der Bluse.
"Maria".
Heilige Jungfrau! Ein Zeichen.
Doch als ich mich gerade entschlossen habe, sie anzusprechen, hat sie bereits all
meine Waren übers Band gezogen und nennt mir freundlich eine Summe. Und schnell
senke ich meinen Blick wieder und krame in meinem Portemonnaie nach dem Geld. Als
sie mir das Wechselgeld reicht, und unsere Finger sich kurz berühren, räuspere
ich mich und frage leise: "Haben Sie heute..."?
Doch da werde ich auch schon von der keifenden Stimme der Frau hinter mir unterbrochen:
"Ja, wollen Sie hier etwa übernachten? Sie halten ja alle mit ihren Privatgesprächen
auf!"
Und dann knallt sie zwei tiefgekühlte, glückliche Gänse auf das Band,
und ich schiebe meinen Wagen schnell fort, nicht ohne noch einmal den Blick zu heben
und in Marias fröhliche Augen zu sehen.
Draußen auf dem Parkplatz packe ich die Flaschen in den Kofferraum. Dann setze
ich mich hinters Lenkrad und drehe den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor
gibt ein ersticktes Keuchen von sich und erstirbt dann. Oh nein, nicht das! Ich probiere
es noch dreimal, jedesmal mit demselben Erfolg, bis der Motor schließlich nur
noch ein asthmatisches Todesröcheln von sich gibt. Frustriert steige ich aus
dem Auto und schlage die Tür zu. Was soll ich denn jetzt machen? Jede, die auf
dem Land wohnt, kennt ganz bestimmt das Problem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Ich laufe durch den Schnee den halben Kilometer bis zur Bushaltestelle, nur um genau
das festzustellen, was ich ohnehin vermutet habe: Am Heiligen Abenden fährt
reinweg nichts.
Langsam gehe ich wieder zum Auto zurück. Verflucht. Da stehe ich nun mitten
in der Prärie. Der ganze Kofferraum ist voller Getränke, und ich habe keine
Ahnung, wie ich nach Hause kommen soll. Ein Taxi! Warum bin ich nicht eher darauf
gekommen? Ich stürze zur Telefonzelle und rufe "Ihr-freundliches-Tag-und-Nacht-Taxi"
an. Ein zarter Engelschor begrüßt mich am anderen Ende der Leitung, dazu
flötet eine warme und herzliche Stimme vom Band, dass über Weihnachten
natürlich niemand arbeitet, und wünscht mir abschließend ein beschauliches
Fest. Ich lege fassungslos auf. Das gibt es doch nicht! Ich sehe auf die Uhr. Es
ist jetzt achtzehn Uhr. Zu achtzehn Uhr habe ich meine Gäste bestellt. Nun,
wenigstens wissen meine Freundinnen, dass ich meinen Hausschlüssel immer auf
dem Türrahmen deponiere. Sie würden also wenigstens nicht draußen
in der Kälte warten müssen. Und wie ich Jana, meine Ex-Freundin kenne,
wird sie die Sache schon schnell in die Hand nehmen, und die Rolle der Gastgeberin
perfekt zu spielen wissen. Jetzt bleibt nur die Frage, wie ich samt Getränken
nach Hause komme. Ich stapfe vor meinem Auto auf und ab. Der Wind geht mir unter
die Jacke, und die Kälte kriecht mir in die Knochen.
Da höre ich plötzlich Schritte, die genau hinter mir verharren. Ich drehe
mich um. Und da steht sie: Maria!
Mein Gott, bei ihrem Anblick ist alle Kälte plötzlich vergessen. Maria
ist das, was man wohl "Erscheinung" nennt, ein Zeichen vom Himmel, ein
göttlicher Fingerzeig. Ich stürze ohne nachzudenken auf sie zu und sprudele
meine Worte hervor, ganz schnell und aufgeregt und unverständlich, und dann,
als sie mich nicht unterbricht, sondern mich immer nur mit diesem lachenden Blick
ansieht, werde ich ruhig und kann endlich in der richtigen Reihenfolge erklären,
was ich von ihr möchte.
"Aha, du hast also, wenn ich dich richtig verstanden habe, gerade deine ganze
Bude voller Weihnachtsgäste und stehst jetzt hier mit den Getränken und
kommst nicht weg?"
"Genau!", stammele ich begeistert und strahle sie an. Merkwürdig,
wieso habe ich nur das Gefühl, ein wenig debil zu wirken?
"Na, dann schlage ich vor, wir packen den ganzen Kram in mein Auto, und ich
fahre dich hin!"
Ich nicke nur, immer begeisterter, und das Grinsen auf meinem Mund will gar nicht
mehr weichen.
Als wir in ihrem im Auto sitzen und die Landstraße in Richtung meiner Wohnung
fahren, fällt mir auf, daß sie das Autoradio nicht angeschaltet hat.
"Soll ich ein wenig Musik anmachen?", frage ich, und sie lächelt mich
nur an und sagt einfach:
"Nee, lass mal. Da kommt heute nur so ein Engelsgetröte raus!"
Mein Kopf zuckt zu ihr herum. Was hat sie gerade gesagt? Doch sie sieht schon wieder
geradeaus auf die Straße.
"Du wolltest doch vorhin an der Kasse etwas sagen", beginnt sie wieder.
"Na ja, eigentlich war das ziemlich bescheuert", druckse ich herum. "Ich
wollte dich fragen, was du heute abend vorhast, ob du vielleicht mit zu meiner Party
kommen magst. Aber heute ist ja Weihnachten. Und da ist normalerweise jeder mit Familie
und Freunden und so was beschäftigt."
Da sieht sie mich an, und ihr Gesicht ist plötzlich ernst.
"Ich habe nichts Besonderes vor. Ich hasse Weihnachten!"
Wow! Da sind wir schon an meinem Haus angekommen, und an den Lichtern im Fenster
sehe ich, dass meine Gäste schon eingetrudelt sind.
"Hast du Lust mit reinzukommen und was zu trinken?"
"Na ja, ich helfe dir noch die Flaschen mit reinzutragen. Und dann gucke ich
mir das Ganze mal an. Ich mag Weihnachtsfeiern nicht. Also wage es ja nicht, mir
einen Glühwein anzubieten. So was finde ich widerlich."
Als wir die Tür öffnen, erwartet uns ein allgemeines fröhliches Gekreische.
Keine heilige Stille. Keine Chöre. Keine Engel. Jana stürzt auf mich zu:
"Karla, du hast dich selbst übertroffen! Ilona und Wenke wollten zuerst
gleich wieder gehen, als sie den "Weihnachtsbaum" gesehen haben. Darunter
wollten sie keine Geschenke legen. Aber jetzt sieh dir an, wie sie zur Musik abfetzen!
Überhaupt diese Musik! Wo hast du so was Schrilles nur her?"
Jetzt erst fällt mir die Musik auf. Aus den Boxen schallen keine Mahalia-Jackson-Weihnachtsklänge
und natürlich auch keine Engelschöre. Neben die Hifianlage hatte ich nichts
anderes gelegt als "Die lustigen Wanderlieder aus Thüringen", und
folglich begrüßte uns jetzt Herbert Roth mit dem Rennsteiglied. Also mir
gefiel das. Und wie es aussah, waren auch die Gäste nicht ganz unzufrieden.
Mit Begeisterung verschlangen Liane, Mirjam und Anna gerade die Käse-Sauerkraut-Rote-Beete-Platte"
und ließen Ankes liebevoll gebackene vegane Spekulatius einfach links liegen.
Mit einem Seitenblick auf Maria, die voller Begeisterung meine Weihnachtseiche musterte,
dann einen Schritt darauf zuging und sich einen Babyball-Käse zum Naschen abpflückte,
fragte ich in die Runde:
"Also ist hier irgendeiner nach Knödeln und Rotkraut?"
Und als kein einziges begeistertes "Ja" erfolgte, ging ich zum Telefon,
wählte die Pizza Hut Nummer und bestellte fünfzehn Hawaii-Pizzen. Gemeinsam
mit Maria trug ich dann den Weißwein aus dem Auto ins Haus.
Dann standen wir etwas unschlüssig vor ihrem Auto, und als gerade "Das
Wandern ist des Müllers Lust" aus dem Fenster schallte, begann sie zu grinsen,
und sagte:
"Also, wenn du nichts dagegen hast, würde ich heute abend gern hierbleiben.
Ich glaube, das hier wird das beste Weihnachtsfest meines Lebens."
Ja ñ und es stimmt wirklich. Am Heiligen Abend passieren Wunder. Weihnachten ist
eben doch das Fest der Liebe.
Antje Wagner
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