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Natascha schwirrte schon
lange an mir vorbei, und irgendwann streckte ich einfach die Hand nach ihr aus. Ich
war wohl die einzige, die in dieser großen Lesbenszene nach ihr zu greifen
wagte. Natascha schien sich aber nicht daran zu stören, daß niemand in
Köln sie haben wollte. Als ich an ihre Tür klopfte, hieß sie mich
jedenfalls herzlich in ihrem Leben willkommen.
Natascha war zierlich bis zur Magerkeit. An dem Tag, an dem ich sie ansprach, schlotterte
ihr eine dünne Jacke in der Farbe von Perserteppichen um die Schultern, so ein
dunkles, glimmendes Rot. Sie sah aus wie ein Botenjunge aus einem Buster-Keaton-Film.
Alle paar Minuten strich sie sich eine braune Strähne aus der Stirn, während
sie ihre Zigarettenasche abstreifte. Sie schien nervös, aber auf eine vitale,
erwartungsvolle Art: Was wird im nächsten Moment passieren? I want to know.
Aber das bei weitem Spektakulärste an ihr war ihr Gesicht. Es war nackt. Ich
wußte bis dato nicht, daß auch Gesichter bekleidet oder unbekleidet sein
können, aber Nataschas Gesicht war wirklich vollkommen nackt. Es gab darin nichts
Überflüssiges. Ihre grauen Augen waren so klar, daß man durch sie
hindurchzusehen glaubte. Ihre Gesichtszüge waren so klar, daß sie der
Betrachterin keinerlei Anhaltspunkte boten. Ich glaube, ihr Geist war so klar, daß
es zuviel für uns alle war. Sie war sehr, sehr stark.
Die fast schon brutale
Nacktheit ihrer Erscheinung war es, die mich zu ihr hinzog. Ich war damals wieder
auf einem meiner Schmerztrips, und meine letzte Freundin hatte so einen fiesen riesigen
Julia-Roberts-Mund gehabt, die wie eine Banane von einem Ohr zum anderen im Gesicht
saß, wirklich ein obszöner Alptraum. Ich finde dann eine Zeit lang, genau
solch ein schmatzendes Höllentor verdient zu haben, bis es mich doch zu sehr
ekelt und ich weiterziehe, auf der Suche nach dem nächsten Höllentor.
Am Ende suche ich vermutlich
nicht den Schmerz, sondern die Erleichterung von ihm - aber zuvor muß es verständlicherweise
erstmal etwas geben, von dem ich mich erleichtern kann. Also auf zur nächsten
Gefahr, die eben Natascha hieß. Wir landeten nach der Party in irgendeinem
kahlen, rottigen Raum, den sie damals als Atelier benutzte. Ich glaube, es war ein
Tiefkeller in der Nähe vom Friesenplatz. Auf jeden Fall hätte er ein perfektes
S/M-Szenario abgegeben. Niemand hätte mich röcheln hören. Oh ja, dachte
ich matt, oh ja.
Obwohl es feucht war
und leicht nach Schimmel roch, lagen all ihre Pinsel, Lappen und Tuben in irgendeiner
undefinierbaren Ordnung zurecht, wie ich aus einem Augenwinkel bemerkte, bevor sie
mich gegen den einzigen Stuhl im Raum drückte und zu sitzen zwang. Das war wichtig.
Ich konnte keine Geliebten gebrauchen, die chaotischer waren als ich. Sie kümmerte
sich also um Ordnung. Gut. Und dann kniete sie halb vor mir und öffnete mir
behutsam, aber gewandt die Jeans, um sie mir über die Knöchel hinweg endgültig
abzustreifen.
Ich fröstelte,
aber es war geil. Die Shorts folgten auf demselben Weg. Ihre Gesten fühlten
sich geschickt und warmherzig an. Dann ließ sie sich endgültig auf die
Knie herab, um ihren Kopf zwischen meinen Schenkeln zu versenken. Und küßte
mich mit einer Innigkeit, daß ich hätte schreien können. Intimität
ist der wahre Schrecken, nicht die Peitschen. Die Zeit war verlangsamt, nicht ausgesetzt,
aber unendlich gedehnt. Ich hörte laut mein eigenes Atmen: ein aus, ein aus.
Es war meine letzte Gewißheit, wie bei einem Unfallopfer, das auf das Eintreffen
der Ambulanz wartet.
Um mich zu retten, dachte ich panisch: "Oh Gott, eine Lutscherin. Das darf doch
nicht war sein, und das mir. Was mache ich hier eigentlich." Aber ich befand
mich in einem Verlies, und niemand konnte mein Röcheln hören, und eigentlich
tat sie mir ja gut. Nur daß ich solche Angst hatte. Oralsex war für mich
etwas Weiches, Kindliches, und daran wollte ich nicht erinnert werden. Das hatte
ich gerade erst überlebt.
Später dann breitete
sie eine alte Decke auf dem Boden aus und lag ganz still neben mir, einen Arm um
meine Schulter geschlungen, während wir ganz ergriffen an die Decke starrten,
weil gerade solch ein Wunder geschehen war. Daß es überhaupt jemanden
gab, der in der Lage war, durchzudringen und einen zu berühren. Ich verliebe
mich so selten, und daß ich die Frau dann auch kriege, ist noch seltener, und
die Chancen, daß sie mich am Ende so erschüttert, stehen in etwa 5:95.
In dieser Zigarette-danach-Stimmung rauchte Natascha eine riesige tütenförmige
Selbstgedrehte, die aussah wie ein Joint, aber keiner war, und aus dessen noch feuchter
Klebenaht der Tabak herausrieselte.
Das Ganze dauerte Stunden.
Ich frage mich heute noch, wie ich es geschafft habe, einer Lungenentzündung
zu entgehen. Wahrscheinlich haben mich die Glückshormone immunisiert. Irgendwann
saß sie federleicht auf mir und holte sich, was sie brauchte, während
ich das Meine dazu tat. Ich erinnere mich an einen nicht enden wollenden Orgasmus.
Sie saß rittlings auf meinem Bauch und lachte, bis ihr die Tränen die
Wangen hinunterliefen, und kam und kam. Mir standen die Haare zu Berge.
Unser Rendezvous hatte
etwas Tierisches: ein sich Balgen und Lecken ohne Ziel, wie Löwenjunge, die
sich die Zeit bis zur nächsten Wiederkehr der Eltern vertreiben, hungrig, aber
zufrieden und selbstgewiß. Natascha hatte definitiv etwas Tierisches in der
Art, ganz sie selbst zu sein und einfach ihrer Wege zu gehen. Sie entzog sich jeder
Norm, oder - da kein bewußter Entschluß dazu zu gehören schien -
die Norm war irgendwann von ihr abgefallen.
Entweder sie hatte den ausgeprägtesten gesunden Menschenverstand, den ich je
erlebt hatte, oder sie war wahnsinnig. Ansonsten stand sie aber doch mit beiden Beinen
fest auf dem nächtlichen Bürgersteig, ein magerer Junge mit leuchtenden
Augen, der Zeitungen verkauft und die neuesten Schlagzeilen ausruft, um kaufwillige
Nachtschwärmer anzuziehen, eine Schwarzweißaufnahme aus alten amerikanischen
Kriminalfilmen. Niemand könnte sie niederschießen, da sie viel zu heiter
und flüchtig war.
Da wir wie Tiergeschwister
waren, stießen wir auch nicht zusammen. Das war unheimlich. Wir glitten wie
Parallelen durchs Raum-Zeit-Kontinuum, und unsere einzige Berührung bestand
im tröstlichen Gleichmaß unseres Abstands voneinander. Hatten wir uns
je aufeinander zubewegt, oder glitten wir seit jeher nebeneinander her? Wir gingen
nicht auseinander, aber auch nicht in eins zusammen. Narzißmus war nie eine
Gefahr, doch ich war bisher ein Mensch, der sich nur spürte, wenn er beim Stolpern
anstieß. Hatten wir wirklich Kontakt, war das Liebe?
Da Natascha keine Anhaltspunkte
bot, in denen ich etwas über mich hätte erfahren können, war ich ganz
auf mich zurückgeworfen, um etwas über mich zu erfahren. Ihre scheinbare
Glätte, ihre indirekte Verweigerung, mich zu spiegeln, war die existenziellste
Erfahrung, die ich je gemacht habe. Es gab keine Geheimnisse, die es bei Natascha
zu heben galt. Sogar als sie sich das erste Mal vor mir auszog, wußte ich genau,
wie ihr Körper aussehen würde, und so war es auch. Der Spiegel blieb leer
- wer also war ich?
Und während ich
mir selbst auf die Spur zu kommen versuchte - das mußte ich, sonst wäre
ich verrückt geworden - lutschte Natascha mit einer verstörenden Hingabe
an meinem Geschlecht und reizte es zu immer neuen Sensationen. Dieses beunruhigend
süße, schmelzende Gefühl, wenn mein Geschlecht von ihren Lippen aufgenommen
wurde, löste den Krampf in meinem Kopf ohne weiteres. Ich habe noch nie jemanden
getroffen, der so auf Oralsex stand. Ich glaube, das war keine Obsession (was ja
immer etwas Düsteres an sich hat), sondern sie mochte Oralsex wirklich gerne,
so wie man gerne Schokopudding ißt oder Flanellpyjamas trägt.
Sie vögelte auch
gerne, aber zum Beispiel nie im Kino oder an sonstigen Orten, wo es mit ebenso massiven
wie harmlosen Tabubrüchen verbunden gewesen wäre. "Ich möchte
jetzt den Film sehen", sagte sie entschieden, und schob meine Hand auf die Armlehne
zurück. Sie schien keine Tabus zu haben, die sie brechen mußte, um sich
zu befreien. Sie tat alles gerne, oder sie ließ es. Sie war durchgängig.
Sie war durchgängig freundlich. Sie fickte mich gerne und ausgiebig, und ich
lernte es, mich an ihrer Art zu freuen.
Sie brachte mir auch
bei, meine Liebhaberinnen zurückzulieben. Daran hatte ich vor ihr noch nie gedacht.
Sie legte sich auf den Rücken und zeigte mir ihren weißen Bauch, fuhr
mit der Zungenspitze über ihre Lippen und lud mich ein, sie zu berühren.
Ich habe wahnsinnig viel geweint in dieser Zeit. Es war sehr ergreifend. Der eine
Teil meiner Freundinnen sagte: "Wie hältst du es bloß aus mit dieser
brutalen Fresse?", während der andere, der einen genaueren Einblick in
die Dinge hatte, sagte: "Wie hältst du es nur mit einem solchen Kätzchen
aus? Die ist doch das genaue Gegenteil von dem, was du dir erhofft hattest. Typisch
- butch on the streets, femme in the sheets."
Dann bin ich, wenn es
sich um eine gute Freundin handelte, einfach in Tränen ausgebrochen, bis sie
irgendwann tröstend den Arm um mich legte und murmelte: schon gut, schon gut,
dann müsse ich das jetzt eben durchlaufen. Es schiene wichtig für mich
zu sein.
Ich erinnere mich an
die Beziehung mit Natascha wie an die Landschaft meiner Kindheit, die öde Weite
der Marschwiesen, die von Horizont zu Horizont reichte. Es gab dort eine große
graue Fläche, und eine große grüne Fläche, und dann gab es diese
unscharfe Linie, wo sich die beiden Flächen im Nebel berührten. Die Marsch
war eine archaische Dämmerlandschaft, von der das Zwielicht nie wich. Selbst
die Tiere waren grau und grün, Fischreiher und Frösche.
Stephanie Sellier
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