ChrisSeiDa  
 
Wieder einmal war es soweit: ChristopherStreetDay, zweieinhalb Tage unglaubliche Möglichkeiten all diejenigen wiederzusehen, die man freiwillig, halbfreiwillig oder unfreiwillig aus den Augen verloren hat. Bisher, d.h. in den letzten sieben Jahren schlenderte ich in locker-lustiger Laune zum Straßenfest, drängelte mich durch die Stände bis zur Bühne und ließ das Rahmenprogramm mehr oder weniger aufmerksam an mir vorüberziehen. Hin und wieder stolperte ich über ein bekanntes oder fast vergessenes Gesicht und manchmal gelangen mir sogar einige belanglose Sätze über den aktuellen Stand der Liebe, ob Hausse oder Baisse, ob Schwarz oder Blond, Jünger oder Älter, offen oder monogam. Wenn mich auch das Intimleben oder gerade nicht vorhandene Intimleben meiner jeweiligen Gesprächspartnerin wenig interessierte, ließ ich mich dennoch guten Mutes auf diese kurzen Plaudereien ein.


Dieses Jahr allerdings schien ich mir unbewußt vorgenommen zu haben, mir den CSD von Grund auf zu verderben, denn wenige Wochen zuvor hatte ich Chris kennengelernt. Chris, ausgerechnet Chris, die zur lesbischen Prominenz gehört, d.h. sie zählt zu jenen politisch motivierten Projekt-und Berufslesben, um die ich bislang einen eher weiten Bogen gemacht hatte. Ich identifiziere mich mit keiner Gruppe, Initiative oder Redaktion, mit keinem Projekt, Verein oder Netzwerk und hatte bis dato kaum Kontakt zu Frauen, die Jahr für Jahr hinter irgendeinem CSD-Stand stehen oder auf irgend-einem Wagen sitzen. Und dennoch, ich stand auf Chris und hatte nichts Besseres zu tun, als mir vorzunehmen, sie ausgerechnet auf dem CSD wiederzusehen. Wieviel Frauen oder auch Männer ihr vage ähnlich sehen, ist mir erst dadurch aufgefallen, daß ich circa alle 30 Sekunden freudig erregt zusammenzuckte, weil ich mir einbildete, irgendwo einen Teil ihres Hinterkopfs oder ihres Gesichts zu sehen. Einmal war ich mir fast sicher, sie gestellt zu haben.

Als ich gerade in der Nähe der verfolgten Gestalt war, hielt mich eine Bekannte auf. Ich hätte sie erwürgen können. Überhaupt war mir jedes Hallo von anderen lästig, ich hastete durch die Menge, von Stand zu Stand, bis ich endlich denjenigen gefunden hatte, hinter dem Chris stehen sollte, zumindest hatte meine beste Freundin sie vor wenigen Minuten dort gesehen. Natürlich war sie ausgerechnet nicht da, was bedeutete, sie könnte überall sein. Ich erdrängelte mir meinen Weg von den Ständen zur Bühne, ließ keine der Imbißbuden aus den Augen und kehrte wieder zu ihrem Stand zurück, wo sie allerdings noch nicht oder nicht mehr war. Vielleicht war sie ja auch bereits nach Hause gegangen, nachdem sie ihren Standdienst beendet hatte, um sich für den Schwoof auszuruhen. Dies empfand ich allerdings als einen ziemlich unangehmen Gedanken, denn ich hatte sie auf dem Straßenfest fragen wollen, auf welche der drei Lesbenparties sie gehen würde.

Wohlweislich hatte ich mir dieses Jahr zum ersten Mal keine Eintrittskarte besorgt. Über ihren Musikgeschmack und ihre sonstigen Vorlieben wußte ich wenig, nicht einmal ihre Telefonnummer hatte ich, so daß andere Klärungsmöglichkeiten unmöglich waren. Ich hatte sie auf einem Kongreß kennengelernt und ihr lediglich meine Visitenkarte überreicht, nachdem ich ihr viel zu viele Komplimente über die Inhalte ihres Fachreferats gemacht hatte. Auch darüber ärgerte ich mich, denn ich war womöglich zu direkt gewesen und sie hatte mich selbstverständlich nicht angerufen. Womöglich hatte sie sich -mit Recht- angemacht gefühlt oder hatte diese Bewunderung einfach abgetan und mich schon längst vergessen. Selbst wenn ich sie in der Menge sehen würde, hieße dies im Grunde überhaupt nichts, denn es bestünde die Möglichkeit, daß sie mich nicht einmal mehr erkennen würde, was ich genau genommen schlimmer fände als die beunruhigende Tatsache, sie im Gewühle nicht zu finden. Was wäre, wenn ich sie entdecken und sie mich erfreut begrüßen würde, darüber dachte ich ebenso nach, zumindest sofern ich die Zeit dazu hatte, denn das Absuchen der vielen Gesichter nahm mich sehr in Anspruch. Noch nie habe ich so viele Menschen so intensiv wahrgenommen und trotz meiner immer verzweifelteren Stimmung wertete ich dies als eine positve Randerscheinung. Gerade, als ich frustriert nach Hause gehen wollte, kam ich an einer kleinen Bühne vorbei, auf der man tanzen durfte und dies brachte mich auf eine neue Idee, die meine Laune sofort erheblich besserte.

Ich wollte mich so postieren, daß Chris mich finden, bzw. sehen würde, wenn sie wollte und begann zu tanzen. Natürlich ließ ich meinen Blick immer wieder auf diejenigen schweifen, die den Tanzenden zuschauten und in der Tat nach circa 20 Minuten entdeckte ich sie. Ich sah sofort weg, weil ich plötzlich auf keinen Fall wollte, daß sie merken könnnte, daß ich sie gesehen habe. Ich drehte mich ab und tanzte mit dem Rücken zu ihr. Es war merkwürdig, jetzt, da ich sie endlich gefunden hatte, wollte ich ihr deutlich zeigen, daß sie mich nicht im geringsten interessiert. Ich tanzte weiter und sah überall hin, nur nicht in ihre Richtung. Als ich am Bühnenrand meine beste Freundin entdeckte, lief ich zu ihr und umarmte sie ungewöhnlich lange. Ohne mich noch einmal in ihre Richtung umzudrehen, legte ich den Arm um die besagte Freundin und wir schlenderten von dannen. Noch am selben Abend rief Chris mich an.


Karin-Sarah Reichelt