Transgender oder: Ich bin Beides, Mann und Frau  
     
  Der 4jährige Jan versteht die Welt nicht mehr: "Das stimmt ja gar nicht!" antwortet er trotzig und unter Tränen seiner Mutter.
Die hatte ihm nämlich auf seine Frage, ob Lena ein "Mann oder ein Mädchen" sei, was seiner persönlichen Geschlechterdifferenzierung entsprach, geantwortet: "Ein Mädchen!"


Lena (40), die Mitbewohnerin der beiden, bevorzugt kurze Haare, grobe Hosen, feste Schuhe und fährt für ihre Autowerkstatt regelmäßig auf Schrottplätze; abenteuerliche Ausflüge, zu denen sie den Knirps gelegentlich mitnimmt. All das aber hatte sein Weltbild von Männern und Mädchen offenbar aus den Fugen gebracht.
Wenige Sekunden nach der Geburt steht für den Rest des Lebens fest: "Es ist ein Junge!" oder "Ein Mädchen!". "Männlich" und "Weiblich" aber sind keine neutralen Kategorien wie blaue oder braune Augen. So war schon immer ein Sohn als Erstgeborener das Wunschkind. Im 18. Jahrhundert banden sich Franzosen dazu für die Zeugung einen Hoden ab. In High-Tech-Zeiten schafft die Auswahl eine Spermien-Sortiermaschine in den USA. Jeder vierte Amerikaner hat mit einer solchen Geschlechtswahl des Nachwuchses keine Probleme, von ihnen würden sich 81 Prozent der Frauen und sogar 94 Prozent der Männer für einen männlichen Stammhalter als Erstgeborenen entscheiden.
Gender, ein Begriff, der ursprünglich aus der Grammatik stammt und das Geschlecht von Wörtern definiert, wurde Anfang der 90er Jahre zum Schlagwort in der Diskussion um das, was eigentlich "weiblich" und "männlich" ist.
Ergebniss der Genderdebatte war unter anderem die schrill-bunte Queerbewegung, die aus den USA mittlerweile auch nach Europa herüber schwappte, gefolgt von Modetrends wie Unisex, die auch den Mainstream erreichten. Eine Auflehnung gegen den starren Geschlechterdualismus und Ausbruchsversuche aus der Zwangsjacke der Zweigeschlechtlichkeit hatten begonnen.



Am Anfang...

Angefangen hatte die Menschheitsmythologie positiv. Die fernöstliche Lehre des Tao versammelte im Ying und Yang noch eine Einheit aller gegensätzlichen "weiblichen" und "männlichen" Kräfte.
Durchgesetzt aber hat sich schließlich das Gegenteil: heidnische und christliche Mythen machten nicht nur aus der Einheit gegesätzliche Pole, sondern setzten sie in eine Hierarchie zueinander.
Beim Apollo-Mythos beispielsweise wird das Weibliche in der dunklen Erdgöttin Diana als sinnliche, gierige und grausame Göttin der Jagd und des Todes personifiziert, gegen die sich Apoll als frühe Adamfigur wehren muss.
Pythagoras formulierte neben rationalen Matheformeln völlig irrational: "Es gibt ein gutes Prinzip, das die Ordnung, das Licht und den Mann geschaffen hat und ein böses Prinzip, das das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat."
Und mit Gottvater hatte schließlich das Patriarchat seine Lichtgestalt. Adam, aus dem Ackerboden (adamah) geformt und eins mit der Natur, erlangt durch den göttlichen Atem gleich einen Herrschaftsanspruch über die Natur. Eva dagegen bleibt Stückwerk, als Rippe ein wesensgleiches Minus.

Freud und die Folgen

Während die Wissenschaft vom Menschen und der Anatomie im 18. Jahrhundert entstand; wird die Lehre der Geschlechterverhältnisse im 20. Jahrhundert fortgeschrieben: Freud erhebt in der Psychoanalyse die Sexualität zum Dogma, zur conditio humana schlechthin: das bedeutendste Merkmal der menschlichen Existenz sei nun mal der biologische Unterschied zwischen Mann und Frau.
Die Fiktion vom sogenannten "Penisneid" macht Mädchen und Frauen letztendlich zu Wesen, die scheinbar einzig nach etwas streben, das sie selbst nicht besitzen.
"Penisneid" - ein Synonym für alle Versuche von Frauen, sich die Vielzahl scheinbar angestammter männlicher Privilegien anzueignen.

Der Mythos von "Geschlecht"
und "Normalität"

Seit Freud und dem Bemühen um Verwissenschaftlichung auch nicht-rationaler Bereiche tritt das Geschlecht tückischerweise wie ein System von Fakten in Erscheinung, obwohl es in Wirklichkeit nur ein System von Werten ist. Wie bei jedem Mythos wird auch der vom Geschlecht nicht als Mythos, als Mär, erkannt.
In Wirklichkeit aber ist "Geschlecht" das Ergebnis einer an die Medizin, Soziologie und Justiz delegierten Feststellung darüber, wer, wie, was, wann und warum zu sein hat. Es ist unklar, wie wir "normale Geschlechter" werden - oder warum wir das überhaupt sollten.

Der Mythos vom "Ewig-Weiblichen"

1900 verfasste der Leipziger Nervenarzt Paul Julius Möbius eine Schrift, die den Wind deutlich machte, der beispielsweise auch Freud umwehte. "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" betitelt, beschrieb der Verfasser Frauen als unfähig, "Gutes von Bösem zu unterscheiden", im "Instinkt tierähnlich, unselbständig.". Das Lernen sei schon dem jungen Mädchen "widerwärtig", und die Ehe führe dann vollends zur Verblödung: "Der Verfall beginnt oft nach einigen Wochenbetten, die Geistesfähigkeiten gehen zurück, die Frauen 'versimpelní."
Der aufkommenden arbeitsteiligen Gesellschaft kam eine Wertung entgegen, die sozusagen die Pole Frau und Natur und Mann und Kultur/Zivilisation verknüpfte. Die Frau wurde auf die Funktionen der Rekreation reduziert. Und wer gebiert, putzt offenbar auch besser, was Frauen bis in unsere Tage qualifiziert für die schlecht bezahlten "Frauenberufe" in der Alten- und Krankenpflege oder im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Das Bürgerliche Gesetzbuch, 1900 war es in Kraft getreten, bestellte den Ehemann zum Vormund seiner Frau: Geld verdienen durfte sie nur, wenn er es erlaubte. Sie hatte kein Wahlrecht und durfte nicht studieren. Das preußische Versammlungsrecht verbot "Frauenspersonen, Schülern und Lehrlingen" jede erkennbare Betätigung in der Politik.
Dennoch bildeten sich "Frauenvereine", in denen imposante Damen mit Rüschenbluse und Kapotthut über Abtreibung, Berufstätigkeit und vor allem über das Wahlrecht debattierten.
Die Frauenhose wurde erstritten, die bis dahin verboten war, so dass beispielsweise eine französische Alpinistin beim Klettern fast in die Tiefe stürzte, weil sie sich in den wallenden Stoffen ihrer Krinoline verfangen hatte.
Hedwig Dohm und andere Vorkämpferinnen der Frauenbewegung erkämpften schließlich 1908 das Recht zum Frauenstudium und das preußische Versammlungsrecht wurde liberalisiert, was den Philologiestudent Alfred Jaffe erbittert an den Berliner Polizeipräsidenten schreiben ließ, er fürchte die "giftigen Einflüsse der Mannweiber", denn sie "schwächen das Selbstbewusstsein und die Energie der Männer, kränken ihren gesunden männlichen Stolz"



Prädikat Mannweib

Zeiten ändern sich, Wörter gelegentlich nicht. So muss sich die Schauspielerin Ulrike Folkerts auch knapp hundert Jahre später so bezeichnen lassen. Nach 10 Jahren als TV-Ermittlerin wird immer noch über ihr Äußeres diskutiert und die Universität Halle bezeichnet sie in ihrer aktuellen Homepage (http://www.medienkomm.uni-halle.de/krimi/bellabl.htm) schlicht als "androgynes Mannweib".
Ein Begriff, der im wörtlichen Sinne eigentlich eine besondere Qualität darstellt und den sich Frauen wie die Schwarzen in USA das Wort "Nigger" aneignen sollten: Vereint er doch in idealer Weise Anima und Animus, wie C.G. Jung die unterschiedlichen Wesenseigenschaften unter Loslösung der Zuordnung zum weiblichen und männlichen Geschlecht einst bezeichnete.

Die frühe Gender-Diskussion

"Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie vielleicht das am meisten diskutierte Lebewesen des Universums sind?" hat einmal Virginia Woolf als Frage formuliert. Tatsächlich wurde schon immer über Frauen geforscht.
Ein zentrales Ziel der traditionellen Frauenforschung war dagegen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und insbesondere die Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen als Ergebnis von Geschichte statt als Effekt natürlicher Unterschiede zu interpretieren.
Die Frauenbewegung erkannte, dass Frauen vor allem aufgrund des sogenannten sozialen Geschlechts diskriminiert wurden.
Denn die menschliche Identität besteht als komplexes Gebilde nicht nur aus dem "angeborenen" Geschlecht ("Ei-Träger", "Sperma-Träger"), das später auch als "Sex" bezeichnet wurde, sondern auch aus dem "anerzogenen" Geschlecht, dem "Gender": den gesellschaftlichen Bedingungen, Männer- und Frauenleitbildern, Verhaltensnormen, Sitten und Gebräuchen. Das soziale Geschlecht wird erworben, anerzogen, aufgezwungen, ansozialiert.
Mit der sogenannten Differenztheorie aber, der Postulierung einer spezifisch weiblichen Kultur ("Männer sind aggressiv, Frauen sind friedfertig") wurde die Zweigeschlechtlichkeit letztendlich nur bestätigt, verbunden mit der Annahme, dass das weibliche (bzw. das männliche) sexuelle und soziale Geschlecht immer gemeinsam auftreten. In diesen Vorstellungen ist ein "Rollentausch" von biologischem und sozialem Geschlecht so wenig vorgesehen wie die Vervielfältigung der kulturellen Geschlechts-Identitäten.
Mit der Unterscheidung und zugleich impliziten Parallelisierung von "sex" und "gender" ging die Frauenforschung in die Falle der "Selbst-Naturalisierung": ein Teil der gesellschaftlichen Differenz - nämlich der Naturanteil - wurde als (natur-)gegeben vorausgesetzt.

Judith Butler

1990 trat die amerikanische Philosophin und Feministin Judith Butler ("Gender Trouble") auch in der klassischen Frauenbewegung eine Lawine los, indem sie behauptete, selbst die biologistische Bedeutung von Geschlechtlichkeit sei zu hinterfragen, Geschlecht wurde von ihr insgesamt als Konstrukt verstanden. Mit anderen Vertreterinnen des Dekonstruktivismus wurde auch die Existenz eines "natürlichen" Anteils an diesem Konstrukt immer weitgehender in Frage gestellt. Geschlecht ist demnach nicht eine Gegebenheit, sondern ein Produkt sozialer Prozesse (doing gender). Dies widersprach der klassisch-feministischen Theorie, die die Kategorie Körper innerhalb der Frauenbewegung als unhinterfragbaren Bezugspunkt weiblicher Identität und Sexualität verstand.
Nach Butler konstituiert sich auch das biologische Geschlecht durch symbolische und kulturelle Einschreibungen: Männlichkeit und Weiblichkeit werden von der Gesellschaft als angeborene geschlechtsspezifische Gegensätze formuliert: zäh, stark, viril, unabhängig, realistisch, rational, gefühllos versus weich, zärtlich, schwach, passiv, abhängig, emotional und nährend. Wenn Frauen/Männer sich entgegengesetzt verhalten, dann wird dies immer noch als "nicht normal" kategorisiert, mit zahlreichen Etiketten diffamiert und schlussendlich eine "Anpassung" gefordert.

Du bist, was du bist

Die strenge und diskriminierende Zweigeschlechtlichkeit, die alles ausgrenzt, was nicht dem Reinheitsgebot von "Weiblich" und "Männlich" entspricht, ist als Ideologie letztendlich dem Rassedenken der Nazis verwandt. Nicht zuletzt sind auch Schwule und Lesben wegen ihrer "Unnatürlichkeit" im Dritten Reich verfolgt worden.
Auch die vermeintliche Toleranz der Gesellschaft, die sich im Transsexuellengesetz (TSG) wiederspiegelt, ist bei genauerem Hinschauen fragwürdig. Beispielsweise fordert das TSG bei der Frau-zu-Mann-Anpassung eine Operation (Hysterektomie), die einzig dem Zweck dient, die Unfruchtbarkeit im Ausgangsgeschlecht dauerhaft sicherzustellen, was viele Trans-Männer als lästigen und zum Teil destruktiven Eingriff empfinden, da die Menstruation aufgrund der Einnahme von männlichen Sexualhormonen auch ohne OP aufhört.
Liest man neuere Kontaktanzeigen, zeigt sich, dass auch Lesben sehr stark in den Kategorien "Männlich" "Weiblich" denken und wünschen ("feminine Frau gesucht!"). Begriffe wie Femmes und Butches, die kursieren, tragen nicht unbedingt zur Auflösung von Vorurteilen bei und auch mit "Frauen", die biologisch keine sind - das beweisen Debatten um die Zulassung von Transsexuellen zu Lesben-Foren - hat die Lesbenbewegung so ihre Probleme.



Annelu Küsters
Photos: Flora Jörgens
 
 

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