lespress12/97
Ein unumgänglicher Verlust
Vor wenigen Wochen überaschte mich eine Freundin - eine sexuell sehr aktive,
dreißigjährige Frau - mit der Frage, wie das denn nun wirklich ginge, eine
Frau zu lecken und dabei einen Schutz zu benutzen. Ich starrte sie an, genau wie
die anderen Freundinnen, die da waren. Wie meinte sie diese Frage? Ja, sie wollte
ein show-and-tell. Also zeigten wir Ihr - über der Jeans - wie ein dental dam
aufgelegt wird und wie es während des Cunnilingus festgehalten wird. Am Ende
der Demonstration stellte diese Freundin fest: ÑIch weiß nicht, wie es euch
geht, aber ich habe das Gefühl, wegen diesem Aids-Scheiß wirklich etwas
verloren zu haben.ì
Dieses Gefühl habe ich tatsächlich auch, besonders hinsichtlich des Oralverkehrs,
und ähnliche Äußerungen habe ich während meiner HIV-Aufklärungsarbeit
sehr oft gehört. Es gibt verschiedene Strategien, mit diesem Gefühl umzugehen.
Die einen vermeiden die Sexpraktiken, die ihnen zu riskant erscheinen, die anderen
ignorieren einfach die Möglichkeit der Ansteckung und hoffen, Ñdaß es gutgehtì.
Wieder andere - und davon gibt es leider viel zu viele - behaupten noch immer, HIV
gäbe es nicht bei Lesben, jedenfalls nicht bei Ñrichtigenì Lesben.
Noch immer (k)ein Thema
Und dabei hat sich das Thema längst gewandelt. Während des Lesbenfrühlingstreffens
1996 kamen sechs Lesben zusammen, die in der HIV-Prävention aktiv sind. Wir
stellten fest, daß wir alle längst das Thema erweitert hatten. Inzwischen
verweisen wir mit Nachdruck auf andere sexuell übertragbare Krankheiten, unter
anderem Pilzenfektionen, Herpes, Hepatitis. Ursprünglich ist dieses Vorgehen
als Taktik entstanden, um die Aufmerksamkeit der Frauen für das Thema zu erreichen.
Gerade Pilzinfektionen und Herpes sind den meisten Frauen geläufig - Krankheiten,
die sie kennen, deren Existenz in ihrem Ñanständigenì Lesbenleben sie nicht
leugnen können. In der Zwischenzeit hat uns aber die Realität nicht nur
eingeholt, sondern sogar überholt. Alle diese sexuell übertragbaren Krankheiten
(neben HIV) haben in den letzten Jahren eine sprunghafte Ausbreitung erfahren. Und
die meisten Lesben, so scheint es mir, sind sich überhaupt nicht der Existenz
und der Übertragungswege bewußt. Safer Sex hat sich also ganz und gar nicht
als Thema erledigt. Hinzu kommt die seit Jahren zu beobachtende Entwicklung, das
sich vor allem Frauen mit HIV infizieren - nicht nur Sexarbeiterinnen und Junkies,
nicht nur Frauen des afrikanischen Kontinents.
Symptomatisch für den Umgang mit sexuell übertragbaren Krankheiten seitens
lesbischer Frauen ist der Stellenwert, den dieses Thema bei den Lesbenfrühlingstreffen,
Lesbenwochen und in Lesbenpublikationen zugewiesen bekommt. Es war wohl kein Zufall,
daß das Treffen der ÑPräventions-Lesbenì 1996 in den inhaltlich wie räumlich
ausgelagerten Bereich ÑLesbenlustì eingebettet wurde. Frau Lesbe beschäftigt
sich ungern mit diesen Themen, die so leicht ihr selbsterfundenes Klischee von der
sauberen Lesbensexualität stören. Bei keinem Lesbenfrühlingstreffen
waren HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten ein wirklich großes
Thema. Workshops, Diskussionen und dergleichen dazu wurden meist spärlich besucht.
Überspitzt formuliert: Frau Lesbe legt sich lieber heilende Steine auf die Brust.
Brustkrebs vs. HIV?
Apropos Brust: In den USA sind einige Aktivistinnen damit beschäftigt, die Problematik
HIV & Co. von jener des Brustkrebses abzulösen. Es gibt interessante Ansätze,
die Entstehung, Diagnose und Behandlung von Brustkrebs neu zu betrachten und zu bewerten,
und zwar aus lesbischer Perspektive. Und tatsächlich ist diese Krankheit auch
bei uns viel zu tabuisiert. Parallelen zwischen HIV und Brustkrebs sind erkennbar:
die Krankheiten gelten als nicht-heilbar, sie können tödlich verlaufen,
auf beiden Gebieten wird die Forschung für Frauen stark vernachlässigt,
die Erkrankten fühlen sich stigmatisiert und werden oft allein gelassen. Brustkrebs
ist nicht weniger schrecklich als HIV. Es wäre aber völlig falsch, das
eine Thema durch das andere zu verdrängen. Sowohl Brustkrebs als auch HIV/sexuell
übertragbare Krankheiten gehören zur Realität eines Frauenlebens.
Die Aufklärung und Unterstützung muß in beiden Gebieten verstärkt
werden.
Für mich persönlich bedeutet die Existenz von HIV und anderen sexuell übertragbaren
Krankheiten, daß ich immer wieder eine Entscheidung in einer konkreten Situation
zu fällen habe. Was finde ich jetzt und mit dieser Frau sicher? Was will ich
unbedingt machen, worauf verzichte ich lieber? Entscheidungen, die mir nach wie vor
nicht leichtfallen. Ignorieren oder Leugnen sind aber keinesfalls gangbare Wege.
Sabine Ayshe Peters