lespress, 12/97 Annie Sprinkles HERstory of Porn...

...und wieder einmal gab die Queen sich die Ehre. Annie Sprinkle, deren Name Erkennungszeichen ist und die für lustvolles Engagement in Sachen Sex weltbekannt ist, präsentierte ihre neueste Show in der UFA-Fabrik. Den meisten ist sie aus ihrer legendären Show vor Jahren bekannt, in der sie das Publikum durch ein Spekulum in ihre Möse gucken ließ und vielen (Männern wie Frauen) einen allerersten Einblick in das Mysterium Weib verschaffte.

Damit führt sie bewußt die Tradition der Frauenbewegung fort, die in den 70ern "Consciousness Raising-Groups" CR bildeten und zu Selbstspekulierungen aufriefen: erkenne dich selbst! Da heutzutage Aufklärungsunterricht immer noich nicht (zeitgemäß) erfolgt, kann Annie für ihre öffentlichen Darbietungen gar nicht genug gedankt werden. "Infotainment" zum Thema Sex ist außerdem erklärtes Ziel der Hurenbewegung, in der sie eine amerikanische Hauptsäule darstellt.

Die neue Show ist eine Weiterführung ihrer Arbeit und präsentiert Pornogeschichte aus weiblicher Sicht: HERstory ist in feministischen Kreisen seit langem das politische Wort, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Geschichtsschreibung größtenteils aus männlicher Sicht erfolgt (HIS story) und dem die unsrige entgegengesetzt werden muß.
Ms. Sprinkle sitzt also auf einem Kinoklappstuhl ihres imaginären "Pink Pussycat Cinemas" und kommentiert ihreWerke von den 70ern bis heute. Im ersten Teil der Show werden gnadenlos Heteropornos gezeigt, die damals wie heute größtenteils aus schwanzigen Spritzszenen bestehen.

Im zweiten Teil wird frau dann fürs Durchhalten belohnt. In den hier gezeigten Filmausschnitten wird klar: Ab den frühen 80ern führen Frauen auch in der Sexindustrie selbst Regie, die Hurenbewegung erstarkt, Annie nimmt sich Zeit in ihren Filmen, führt uns in spirituelle Kreise, zeigt weibliche Orgasmen, die bis zu fünf Minuten dauern. Während sie auf der großen Leinwand mit einem Massagestab lustvoll mit sich spielt, animiert sie gleichtzeitig das Publikum mit dem Vibrator. Dann nähert sie sich ihrer Freundin auf der Leinwand, um diese liebevoll zu streicheln und ihre große Möse zu lecken. Ja, das ist doch viel schöner, der Unterschied kann bildlicher nicht festgehalten werden!
Durch Annies trockenen Humor kann dabei zumindest das Amerikanisch verstehende Publikum ihre wie auch immer geartete Emotionen ablachen. Andere wiederum halten die erste Halbzeit nicht durch und flüchten vor lauter Samen hinaus. Zu Hause kann wenigstens die Fernbedienung über diese Szenen hinwegspulen (oder sie wiederholen). Hier bekommt Frau spermienklar reingedrückt, was einen herkömmlichen Porno ausmacht. Eine Pause ist denn auch nach 45 Minuten mehr als notwendig, wenn nicht schon vorher (wie in einer gezeigten Freß- und Fickorgie schon auf den Schwanz) gekotzt werden mußte.
Dann kommt natürlich Safer Sex hinzu und Annie, wie viele von ihren früheren Sexpartnern durch Aids verloren hat, verteilt jede Menge Gummis, Handschuhe und Leckläppchen. Ganz nebenbei verpaßt sie Unterricht in Sachen (Lesben)Sex.
Da liegt sie wieder mit ihrem strombetriebenen Spielzeug auf dem Bett. Plötzlich zieht ihr jemand den Stecker aus der Dose. Gemein! Ein nackter Oberkörper nähert sich, und alle ahnen den es ihr besorgenden Stecher - aber halt, es ist eine Frau, wow! Schön sieht sie aus, und ihre Lecktechniken mit Latextüchlein sind eine wahre Herausforderung zur Nachahmung.




Zeit für eine weitere Unterrichtsstunde in Sachen Butch, Drag King, Transvestiten, Transsexuelle und wie sie alle heißen. Frau Lehrerin hat hier eine Lehrstunde an der Tafel ausgearbeitet, die die klassische Einteilung in männlich und weiblich in so viele Varianten ausweitet, bis die herrschende Zweiteilung mehr als lächerlich wirkt. Die Zigarettenfirma West hat diese Lektion übrigens als Werbespot abgekupfert.

Annie Sprinkle stellt uns weiterhin ihre Freundin Les vor, die sich zum Mann umoperieren ließ, läßt uns einige Minuten ihren "Sluts and Godesses" Workshop mitmachen, in dem wir lernen, Huren und Göttinen der Lust zu sein, und zum Schluß dürfen wir an ihrem berühmten Naturorgasmus teilhaben, in dem sie mit einem Blumenkranz geschmückt, eins mit einem Baum wird.

"Masturbations Memoirs" ist ihr neuestes Projekt, in dem sie die unterschiedlichen Arten und Weisen von Frauen zeigt, sich selbst zu lieben. Dabei hat sie keine Altersstufe vergessen.


Fast alle ihre Filme werden mittlerweile an Universitäten gezeigt, und in diesem Sinne hat sie uns ein Referat gehalten. Manche sind enttäuscht rausgegangen, wiel sie gerne das Tittenballett oder andere Anzüglichkeiten gesehen hätten. Andere sind zum Nachdenken angeregt worden. Ja, Porno drehen ist schwer, und vielleicht befolgen manche Annies Aufruf, es selbst zu tun.

Bei dieser Revue vom Rammelspritzer bis zum autonomen atmospährischen multiplen Orgasmus der Frauen ist eins jedenfalls hängengeblieben: Nie war der kleine Unterschied so deutlich wie heute.

Laura Méritt

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