Hallelujah

Ich weiß noch, wie wir ganz arglos die Schildergasse hinuntergingen. Es war ein schöner Samstagvormittag, und die Leute überfluteten die Innenstadt.

Jackie und ich hatten unsere erste Verabredung. Wir schauten uns T-Shirts an, die auf den runden Chromständern vor den Kaufhäusern hingen. Mit einem Mal fluchte sie "Schnell, laß uns abhauen!" und zog mich am Arm zum Eingang der Antoniterkirche.
Ich ließ mich bereitwillig wegzerren, aber neugierig war ich schon. Wer war das, eine peinliche Ex? Eine rachsüchtige ehemalige Konkurrentin, der Jackie in der Hitze des Gefechts einen Vorderzahn ausgeschlagen hatte? Meine Phantasie kannte keine Grenzen, während wir außer Atem im Vorraum der Kirche standen und auf Verfolgerschritte lauschten.
Nach einigen Minuten wähnten wir uns in Sicherheit, und ich nutzte die Zeit, um mir dieses Ernst-Barlach-Ding anzusehen, da donnerte es auf einmal durch die Kirche: "Gabi?!" Jackie machte noch einen schwachen Versuch, sich hinter einer Kirchenbank zu ducken, da flog auch schon eine untersetzte Frau mittleren Alters auf sie zu. "Mama!" rief Jackie mit einem Zittern in der Stimme. Ich beschloß, ihr seelischen Beistand zu leisten, und stellte mich hinter sie. "Gabi?!" raunte ich ihr ins Ohr.

Die Fremde bahnte sich unerbittlich ihren Weg durch die Bänke, geradewegs auf uns zu. "Gabi!" donnerte es noch einmal.

"So eine Überraschung!" Dann drückte sie Jackie/Gabi an ihren vollen Busen. "Ich hab gedacht, bevor Gabi an Ostern nach Hause kommt, machst du schnell noch ein paar Einkäufe in Köln - in Euskirchen kriegt man ja nun doch nicht alles!" Sie tätschelte ihr so heftig die Wange, daß es sich fast wie Ohrfeigen anhörte. "Ach Gabi, wie schön, dich hier zu treffen! Meine Große!"
"Mama", flüsterte Jackie verzweifelt, "ich heiße jetzt Jackie!" - "Ach ja. Liebes, du mußt entschuldigen, ich bin manchmal so vergeßlich." Ungeduldig riß sie sich ihre Mütze vom Kopf, die eine Flut duftender silbergrauer Haare freigab. Sie sah aus wie eine dieser Intellektuellen, die das ZEIT-Rätsel in einer halben Stunde lösen, exzentrisch, wohlhabend, unterfordert. Arztfrau vielleicht, überschlug ich rasch.
Da erst fiel ihr Blick auf mich, die ich noch immer beschützerisch drei Schritte hinter Jackie stand. "Ach, und das muß deine neue Geliebte sein! Reizend, ganz reizend!" Sie schüttelte meine Hand, und ich errötete bis in die Fingerspitzen. "Susanne Schumacher, angenehm." - "Verena Diehl - sehr, sehr, sehr entzückt. Ich bin die Mutter." Sie ließ meine Hand gar nicht mehr los und strich sich mit der anderen den Pony aus der Stirn, um besser sehen zu können. Ihre Augen leuchteten auf. "Gabi, äh Jackie - die sieht ja nett aus! Bring sie doch an Ostern mit, Christoph kommt auch mit Maria."
Jackie wand sich vor Verlegenheit: "Nein, Mama, sie ist nur..." - "Ach, ich verstehe."

Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. "Ein One-Night-Stand!"

Ich bekam keine Luft mehr. "Jackie, halt sie fest. So was Süßes hast du nicht mehr angeschleppt, seit du 16 warst. Gratuliere." Frau Diehl wandte sich mir zu und sagte mit einem weichen Ausdruck auf ihrem Gesicht: "Sie ist etwas schüchtern, müssen Sie wissen. Stille Wasser und so weiter. Aber die richtige Frau..." Sie ließ den Satz unvollendet und piekste mir mit dem Zeigefinger in die Schulter. In ihren Augen funkelte das Vergnügen.


Jackie sah bleich aus. Ein Schluck Wasser plus Reizentzug, oder sie würde uns kollabieren. "So, jetzt entschuldigt mich aber, ich bin gleich noch mit Gisela im 'Indigo' verabredet. Ciao!" Frau Diehl winkte noch einmal an der Kirchentür und schwebte zurück in den Einkaufstrubel.
Wir schwiegen. Schließlich sagte Jackie, die neben mir auf eine Bank glitt: "Sie ist Abgeordnete der GRÜNEN im Euskirchener Stadtrat und hatte vor fünf Jahren ihr Coming Out. Mein Vater ist Arzt. Sie leben ganz gut miteinander. Ich habe noch einen zwei Jahre jüngeren Bruder."
"Na, das klingt doch paradiesisch", sagte ich, verlegen, weil ich unverlangtermaßen schon so viel Einblick in ihr Leben hatte.
"Ich weiß nicht, es war nie leicht. Sie ist einfach zu unterstützend." Sie seufzte. "Hoffentlich schreckt sie dich nicht ab."
Ich hakte sie unter, das erste Mal überhaupt. "Nein, nicht im geringsten."

Stephanie Sellier

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