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Sie war tätowiert,
trug Männerkleidung und durfte Marlene Dietrich als einzige ungestraft "Babeî
nennen. Sie besaß ihr eigenes kleines Inselreich in der Karibik und war als
Rennbootpilotin zu ihrer Zeit die schnellste Frau auf dem Wasser. Als eine der reichsten
Frauen Amerikas suchte sie sich ihr Leben lang spannende Aufgaben und Abenteuer,
anstatt ein für ihre Herkunft angemessen müßiges und damenhaftes
Dasein zu führen.
Marion Barbara Carstairs kam am 1. Februar des Jahres 1900 als reiches Kind zur Welt.
Ihr Großvater hatte in den 1860er Jahren zum richtigen Zeitpunkt in eine kleine,
aber vielversprechende Ölfirma investiert. Sein Geschäftspartner hieß
John D. Rockefeller, die Firma mit dem Namen "Standard Oil" dominierte
schon bald den US-amerikanischen Markt. Und das Familienvermögen, klug angelegt,
hatte sich über die Jahre vermehrt, ohne dass sich nach dem Ableben des Großvaters
noch jemand aktiv um das eigentliche Geschäft kümmerte. Denn vor allem
Marions Mutter, Evelyn, rebellierte gegen die puritanische Strebsamkeit ihres Vaters,
suchte und fand ihr Glück jenseits des Atlantik. In London frönte sie einem
ausschweifenden Leben in gehobenen Zirkeln. Die Heirat mit Albert Joseph Carstairs,
einem Offizier der britischen Krone, sollte wohl vor allem die gestrengen Eltern
beruhigen. Dennoch konnte ihre Tochter sich später nicht sicher sein, ob Albert
Carstairs tatsächlich ihr biologischer Vater war. Marion kam erst im achten
Jahr der Ehe zur Welt, noch kurz vor ihrer Geburt meldete sich ihr Vater als Berufssoldat
zu irgend einem Auslandseinsatz ó und ward nie wieder gesehen.
Die kleine Marion wächst - von Ammen und Gouvernanten bewacht ó im reichen Londoner
Stadtteil Mayfair auf. Nachdem die Ehe mit dem entschwundenen Carstairs geschieden
worden war, hatte ihre Mutter erneut geheiratet (drei weitere Ehen werden folgen)
und eine Tochter und einen Sohn zur Welt gebracht. Aber die kleine Marion rebelliert
schon im zarten Kindesalter gegen die Familie: "Tuffy" (von engl. "tough"),
wie Marion nach einem Sturz von einem Kamel im Londoner Zoo genannt wurde, findet
Baumhäuser Bauen und Holzautos viel spannender als Puppen, wälzt sich schon
mal schreiend im Schlamm und malträtiert ihren kleinen Stiefbruder mit Nähnadeln.
"Left family aged 11" wird später in ihrer nur eine Seite umfassenden
Autobiographie zu lesen sein. Das "gefährliche" Kind Marion wird auf
Betreiben ihres Stiefvaters in die USA abgeschoben, in ein Mädchen-Internat
in Connecticut. Die Erfahrungen hier sollten Wasser auf Marions Mühlen sein:
Ihre Zimmergenossin liebte es ebenso wie sie, sich Männerpyjamas und Herrenschuhe
zu kaufen, und die ersten gleichgeschlechtlichen Liebschaften bleiben natürlich
auch nicht aus. Kaum herangewachsen, strebt Marion nach Abenteuern. Gerade mal 16
Jahre alt, überredet sie ihre Großmutter, sie als Fahrerin für das
Rote Kreuz nach Frankreich reisen zu lassen. Der Erste Weltkrieg tobt, und wo jetzt
Männer fehlen, werden Jobs mit Frauen besetzt. Marions siebzehnte Atlantiküberquerung
ó die See wird ihr Element ó führt sie nach Paris, wo sie Versorgungs- und Krankentransporte
fährt. Und hier erlebt sie noch eine weitere Horizonterweiterung: Paris ist
zu dieser Zeit die Stadt der Sappho-Anhängerin Nathalie Clifford Barney und
ihres Zirkels ó geradezu zwangsläufig gerät die burschikose Marion, inzwischen
genannt "Joe", in ihren Dunstkreis.
Nach Ende des einen Krieges begibt sich Joe gleich in den nächsten: In Irland
begehrt die IRA gegen die britischen Besatzer auf, und die abenteuerlustige Joe
dient sich dort der britischen Armee als Fahrerin für das Offizierskorps an,
immer der Gefahr von Attentaten ausgesetzt. Auch in Irland trifft sie auf "Ihresgleichen":
Die beiden Schwestern Moilly und Bardie Coleclough sind ihre Kolleginnen und ebenso
unkonventionell wie Joe selbst. Frau trägt Overalls und Barette; die nicht nur
für Autoreparaturen unpraktischen langen Haare fallen, und bei allen dreien
ist der Hunger nach "männlichen Jobs" gleich groß. Zusammen
gehen die drei 1919 zurück nach Frankreich, um dort die schrecklichen Hinterlassenschaften
des Stellungskriegs aufzuräumen.
Sich ihre bisherige Berufserfahrung zunutze machend, gründeten Joe, Molly und
Bardie in London die "X Garage", einen Chauffeurservice für Wohlbegüterte.
Die Reisen ihrer Kunden führten sie durch ganz Europa, auch nach Nordafrika
und nach Arabien. Das Geld für die notwendigen Investitionen, wie z.B. ein Dutzend
Daimler-Nobelkarossen, steuerte natürlich Joe bei, die Tochter aus reichem Hause.
Nach dem Ableben ihrer geliebten Großmutter wurde ihr allein in den Jahren
1921 und 1922 eine Gesamtapanage von etwa 350.000 US-Dollar ausgezahlt ó eine für
diese Zeit gewaltige Summe. In einem merkwürdigen Dualismus distanzierte sie
sich jedoch von ihrem Reichtum. Nie ließ sie sich ihren Status anmerken, trat
ebenso ölverschmiert und schmutzig zum Dienst an wie ihre Geschäftspartnerinnen
und baute sich zwei verlassenen Armeebaracken in der Nähe von London zu einem
"Landsitz" aus.
1924
begann ein neuer Abschnitt in Joe Carstairs Leben. Mit mehrjährigen Verzögerung
wurde das gewaltige Erbe ihrer Großmutter frei; wahrscheinlich um die 30 Mio.
Dollar standen ihr mit einem Schlag zur Verfügung. Auch entdeckt sie zu dieser
Zeit die ideale Verbindung ihrer beiden Leidenschaften: Motorkraft und das Meer.
Sie lässt sich das schnellste Motorboot der Welt bauen und beginnt, professionell
Rennen zu fahren ó zu einer Zeit, als weltweit nur eine Handvoll Männer diesen
extrem gefährlichen Sport ausübten. Und auch privat geschieht etwas Einschneidendes:
Eine wichtige Figur tritt in ihr Leben. Ruth Baldwin, eine Amerikanerin, mit der
sie die folgenden Jahre zusammenleben sollte, schenkt ihr zu Weihnachten eine etwa
30 Zentimeter hohe Kinderpuppe aus Leder und Stoff, die Joe auf den Namen "Lord
Tod Wadley" tauft. In dieser Puppe findet Joe den offenbar lange ersehnten Begleiter
in allen Lebenslagen und ihr exzentrisches "Beziehungsverhältnis"
geht so weit, dass Wadleys Name fortan auch auf allen Carstairschen Klingelschildern
angebracht wird.
In der folgenden Zeit gewinnt Joe Carstairs nahezu jedes wichtige Motorbootrennen
rund um die Welt und stellt auch den Weltrekord als schnellste Frau auf dem Wasser
auf. Eine Zeit lang honoriert die englischsprachige Presse das Bestreben der mutigen
Frau, doch bekommt sie auch bald Gegenwind. Waren Frauen, die sich wie Männer
kleideten und benahmen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch ein alltäglicher
Anblick, so wurde ein solches Auftreten ebenso wie die mehr oder weniger offen gelebte
Homosexualität zunehmend als bedrohlich empfunden. Carstairs, die die wilden
Zwanziger Jahre und ihre Freizügigkeit genossen hatte (wovon viele Affären
vor allem mit weiblichen Showgrößen zeugen), spürte wohl das Schwinden
der Toleranz in ihren Heimatländern England und den USA ... und nahm Reißaus.
Zunächst begab sie sich mit ihrer Motoryacht auf eine Weltreise, dann jagte
sie in der Karibik nach Piratenschätzen. 1934 schließlich kaufte sich
Joe für 40.000 US-Dollar eine fast gänzlich unbebaute und unbewohnte Insel
auf den Bahamas und schuf sich dort ihren eigenen Garten Eden. Plantagen und Straßen
wurden angelegt, Strom- und Wasserversorgung gesichert, der Boden gedüngt und
die Insel mit 3.000 Palmen neu begrünt. Neben ihrem eigenen Domizil, einer Villa
im spanischen Stil, baute Carstairs eine Schule, eine Funkstation und ein Museum,
für das sie eigenhändig Ausstellungen zusammenstellte. Ende der 30er Jahre
lebten auf ihrer Insel "Whale Cay" und anderen zugekauften Inselchen mehr
als 200 Einheimische, Tendenz steigend. Diese hatten sich zwar den strikten Regeln
der Grundbesitzerin zu beugen - bis auf wenige Ausnahmen ist kein Alkohol erlaubt,
dafür aber die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau vorgeschrieben - profitierten
aber vor allem von einer guten Versorgungslage, dem allgemeinen Zugang zu Bildung
und nicht zuletzt von der regelmäßigen Bezahlung durch ihre Arbeitgeberin.
War das Leben auf der Insel vor allem in der Anfangszeit auch spartanisch, so war
sie doch nicht weit von der amerikanischen Küste entfernt. Bald kamen Scharen
von Besuchern und vor allem Besucherinnen nach Whale Cay, um Sonne, Strand und wilde
Parties zu genießen. Auch die Drehbuchautorin und Geliebte von Garbo und Dietrich,
Mercedes De Acosta, sowie Joes Ex-Affäre aus britischen Zeiten, der exzentrische
Hollywood-Star Tallulah Bankhead, schauten gerne vorbei. Joe war sich ihrer Ausstrahlung
bewusst: "Ich musste mich nie um sie bemühen, sie gingen einfach in meine
Falle", stellte sie später im Hinblick auf ihre zahlreichen Geliebten aus
dieser Zeit fest. Mit keiner dieser meist blonden und weitaus jüngeren Frauen
hatte sie es lange ausgehalten - aber von jeder mindestens eine Photographie aufbewahrt:
Etwa 120 Photos von Ex-Geliebten zierten zuletzt die Wände ihrer Villa.
Eine Berühmtheit aber hatte es der sonst so einzelgängerischen Joe ganz
und gar angetan: Marlene Dietrich. Ihre Wege hatten sich 1937 beim Sommerurlaub an
der französischen Küste gekreuzt ó die Dietrich, unterwegs mit ihrem Geliebtem
Erich Maria Remarque und Tochter Maria, hatte einen tollkühnen, braungebrannten
Motorbootfahrer erspäht, und verlangte, "ihn" kennenzulernen. Joe
Carstairs - die auf die Frage, ob sie eine gute Liebhaberin sei, mit einem sparsamen
"Oh yes!" zu antworten pflegte - und die Dietrich begannen eine Affäre,
und Joe wurde die einzige Person weltweit, die die Diva ungestraft mit "Babe"
ansprechen durfte. Nach zwei Jahren jedoch endete diese Beziehung mit einem Eklat:
Joe hatte der Dietrich ihre ehemalige Sekretärin als Kindermädchen vermittelt.
Diese nötigte die damals 13-jährige Maria zu sexuellen Handlungen. Die
Schuld für dieses Desaster wurde Joe Carstairs angelastet.
Doch Joe fand wie immer einen Weg, den persönlichen Verlust zu kompensieren.
Sie begann zu dichten, machte noch 1944 den Pilotenschein und gründete einen
Verein zur Emanzipation der Schwarzen. Mitte der 50er Jahre merkt jedoch auch Joe,
dass sie nicht auf ewig der "kleine Junge" bleiben konnte ó die Arthritis
quält sie zuletzt so stark, dass sie schweren Herzen 1976 ihre Insel verkaufte
und ins Rentnerparadies Florida zog. Jene ihrer WeggefährtInnen, die nun noch
lebten, unterstützte sie mit großzügigen Geldzuwendungen und Geschenken.
Der Traum, ihren 94 Geburtstag zu erleben, sollte sich nicht mehr erfüllen.
Marion Barbara "Joeî Carstairs starb am 18. Dezember 1993 und wurde zusammen
mit ihrem lebenslangen Begleiter ó der Puppe Lord Tod Wadley - verbrannt und beerdigt.
Sabine König/Anne-K. Jung
Literaturtipp:
Kate Summerscale: The Queen of Wahle Cay, Viking Press 1997 ó leider im deutschen
Buchhandel gerade nicht erhältlich, jedoch über www.amazon.com von gebraucht bis neu ab 2
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