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Anne Holt war Fernsehjournalistin, Polizistin, stellvertretende Polizeichefin von
Oslo und 1996 für kurze Zeit Justizministerin von Norwegen. Heute betreibt sie
eine Anwaltskanzlei und ist vor allem Schriftstellerin. Bislang veröffentlichte
sie sieben Kriminalromane, die in Norwegen auch alle verfilmt wurden. Fünf ihrer
Romane wurden bereits ins Deutsche übersetzt (von Gabriele Haefs). Der letzte
davon erschien im Frühjahr 2001 unter dem Titel "Das achte Gebot".
Der Piper Verlag schreibt in der Kurzbiographie, Anne Holt lebe "mit ihrer Frau
in Oslo". In Norwegen ist die lesbische / schwule Heirat seit 1993 möglich.
Aber ihr Privatleben hält Anne Holt streng unter Verschluß. Viel mehr
als die Information, daß sie vor knapp zwei Jahren ihr Zusammenleben mit der
Verlegerin und Publizistin Tine Kjaer amtlich eintragen ließ, ist nicht zu
erfahren. Für die Hochzeit begaben sich die zwei in die norwegische Botschaft
nach Stockholm, um jeglichen Presserummel zu vermeiden. Zum Thema Lesbischsein weigert
sich die berühmte Schriftstellerin, Auskunft zu geben - sehr zum Mißfallen
der "lesber" und "homser" in Norwegen.
Die Hauptperson(en) ihrer Krimis
Im Mittelpunkt ihrer Kriminalromane steht die Kommissarin Hanne Wilhelmsen. Sie war
nicht von Anfang an als Hauptperson gedacht. Auch ihr Lesbischsein war anfangs eher
eine unauffällige Randerscheinung. Als sie die Figur entwickelte, sagt Anne
Holt, machte sie sie zu einer Lesbe, weil sich Hanne Wilhelmsen doch irgendwie von
Modesty Blaise unterscheiden müsse...
Anne Holt: "Alle sehen meine Bücher heute als Hanne-Wilhelmsen-Romane,
und ich inzwischen auch. Aber das war anfangs gar nicht meine Absicht. Als ich das
erste Buch schrieb, entwickelte ich vier Hauptpersonen und wußte noch gar nicht,
wer am Ende wirklich die Hauptrolle bekommen würde. Am liebsten mochte ich persönlich
Hakon Sand. Er ist nett, gemütlich und nicht sehr intelligent. Also, eigentlich
sollte das eine Reihe über ihn sein. Aber das war wohl keine so gute Idee. Als
das erste Buch erschien, drehten sich alle Reaktionen der LeserInnen und JournalistInnen
nur um Hanne Wilhelmsen. Und da ich die Meinung der LeserInnen zu würdigen weiß,
sagte ich mir: verdammt, was soll´s, laß es eine Reihe über Hanne
Wilhelmsen sein."
Für Spannung sorgen die Querverbindungen und die Schwierigkeiten zwischen den
verschiedenen Charakteren: Neben dem jungen Adjutanten Hakon Sand, dem die Autorin
die positivste persönliche Entwicklung zugesteht, arbeitet im Osloer Polizeihauptquartier
noch Billy T. Er ist zwei Meter groß, hat vier Söhne mit vier verschiedenen
Frauen und ist ein Trampeltier; aber er kümmert sich am Wochende brav um seine
Söhne und zeigt auch beruflich Verantwortung. Mit Hanne Wilhelmsen verbindet
ihn eine Art Bruder-Schwester-Beziehung. Anne Holts vierte zentrale Person ist die
Anwältin Karen Borg, die sich mit Hakon Sand zusammentut. Im Lauf der Zeit werden
sie die engsten Freunde von Hanne Wilhelmsen und ihrer Partnerin Cecilie Vibe.
Besonders im aktuellen Roman "Das achte Gebot" hat Hanne Wilhemsen in ihrem
Privatleben viele Schwierigkeiten zu meistern, die nur zum Teil selbstverschuldet
sind. Ihre Geliebte erkrankt an Krebs, wird operiert und stirbt.
Anne Holt: "Am Ende dieses Buches wird Hanne Wilhelmsen für sechs Monate
in ein Kloster in Italien gehen. Ich habe schon öfter versucht, sie wegzuschicken,
aber sie hat die Tendenz, immer wieder aufzutauchen. Wenn es richtig hart auf hart
kommt in Oslo, ist sie wieder da. Wie Superwoman! Und ich denke, das war auch der
Grund dafür, daß ich ihr in den letzten Büchern soviele Schwierigkeiten
an den Hals geschrieben habe. Sie war einfach zu super, sie hat alles immer wieder
in Ordnung gebracht. Also mußte ich sie mal von den Klippen schubsen und abwarten,
ob sie wieder hochgekrabbelt kommt. Aber ich denke, sie schafft es..."
Moral, Integrität und Rache
Neben der persönlichen Entwicklung der Hauptfiguren und den Rückschlägen,
die sie einstecken müssen, stehen Moral, Zweifel und die Frage der Integrität
im Mittelpunkt der Romane. Anne Holt betont vor allem den Aspekt der Selbstjustiz
und den Wunsch nach Rache.
Anne Holt: "In den westlichen europäischen Ländern und den USA drehen
sich fast alle Kriminalromane um Kapitalverbrechen, um einen oder mehrere Morde.
Der Mörder stellt das Böse dar. Das ist einfach und klar. Meine Bücher
beschäftigen sich viel mit dem Thema Rache und Selbstjustiz. In meiner Jura-Ausbildung,
die in Norwegen sechs Jahre dauert, haben sie uns immer beigebracht, daß Rache
keinen Platz in unserem System hat. Auch und gerade als Anwältin sehe ich aber,
daß die Rache im Namen der Opfer einen ganz wichtigen Anteil an dem Strafsystem
unserer Gesellschaft hat. Auge um Auge, das stand schon in der Bibel... Und wenn
der Staat diesen Wunsch nach Rache nicht erfüllt, fängt eben die Selbstjustiz
an. Ich kann das nicht wirklich vertreten oder respektieren, aber ich kann es verstehen.
Wenn z.B. meine Mutter vergewaltigt würde, würde ich auch Rache nehmen
wollen. Wenn meine Nichte umgebracht würde, würde ich den Mörder töten
wollen. Ich bin ein zivilisierter und kultivierter Mensch und ich weiß, daß
ich das nicht tun sollte. Aber ich denke, diesen Wunsch nach Rache ganz zu unterdrücken
und zu verbieten, ist ein sehr gefährlicher Aspekt der westlichen Gesellschaften.
Das ist ein ganz tiefsitzendes Gefühl bei Menschen. Das gab es schon bei den
Wikingern, und manche grundlegenden Bedürfnisse haben sich seitdem eben nicht
wesentlich geändert."
Ein weiteres auffälliges Merkmal ihrer psychologischen Krimis ist die Tendenz
vieler Beteiligter, sich mit ihren Beobachtungen nicht oder erst nach langem Zögern
an die Polizei zu wenden. Das erschwert und behindert deren Arbeit ganz enorm. Die
Beweggründe der Einzelnen für ihr Verhalten sind gut beobachtet und menschlich
nachvollziehbar.
Anne Holt: "Schreiben bedeutet für mich Leben; das Leben beobachten. Es
muß nicht notwendigerweise mein eigenes gelebtes Leben sein. Umgekehrt schreiben
ja auch nicht alle Leute, die wirklich viel erlebt haben. Es geht beim Schreiben
um Einfühlungsvermögen. Man muß in der Lage sein, andere Menschen
wirklich wahrzunehmen. Ich liebe es, zu schreiben und zu beobachten."
Die Lesbe Hanne Wilhelmsen und ihre Erfinderin
Anne Holts Figuren sind interessant und vielschichtig. Hanne Wilhelmsen selbst hat
hohe Mauern um sich herum aufgebaut. Sie versteckt ihre Geliebte Cecilie Vibe und
ihr gemeinsames Privatleben. Sie erlaubt sich und ihr noch nicht einmal ein Klingelschild
mit zwei Frauennamen darauf. Cecilie ist oft verletzt von dieser Haltung ihrer Liebsten.
Nur zu gern würde sie offiziell als die Partnerin der Kommissarin anerkannt
sein.
Hier liegt natürlich nahe, daß Anne Holt ihre eigenen Erfahrungen einfließen
ließ. Auch das Privatleben der Schriftstellerin ist kein Thema für die
Öffentlichkeit.
Anne Holt: "Hanne Wilhelmsen hat einen komplizierten Charakter. Sie wird langsam
so kompliziert, wie wir alle sind. Es ist unmöglich, sie zu beschreiben. Über
sie habe ich eine Akte, die ist so dick und schwer wie eine Stasi-Akte. Ich habe
Akten über alle meine Figuren angelegt, die mehr als einmal auftauchen. Allerdings
habe ich bestimmt schon die Hälfte von dem vergessen, was in Hanne Wilhelmsens
Akte steht... Was ich am meisten an ihr mag, ist die Tatsache, daß sie sehr
stark ihrer Intuition vertraut. Das macht sie auch zu einer sehr guten Polizistin.
Traurig für sie ist, daß sie praktisch keine Kindheit hatte - sie verbrachte
die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens damit, die ersten zwanzig zu vergessen. Und
ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist! Sie ist 1960 geboren, sie ist
also etwa 40 Jahre alt. Ich selbst bin 1958 geboren..."
Nach ihren verschiedenen beruflichen Erfahrungen, u.a. als Anwältin, Polizistin,
Journalistin, hat sich Anne Holt nun erfolgreich der Schriftstellerei verschrieben.
Sie bekam viele Preise, und das Schreiben macht ihr wohl auch ein bißchen Spaß
- zumindest die verschiedenen Figuren zu erfinden und auszuschmücken:
Anne Holt: "Diesen Teil liebe ich am meisten am Schreiben. Schreiben an sich
macht keinen Spaß - tatsächlich hasse ich es sogar. Aber mir Charaktere
und einen Plot auszudenken, das liebe ich sehr. Ich mache das immer im Sommer, und
es macht wirklich Spaß. So ungefähr um den 1. September herum setze ich
mich dann hin und schreibe das dazugehörige Buch, einen langen langweiligen
Winter lang."
Wahrscheinlich, um ihren LeserInnen die langen Winter zu verkürzen. Anne Holts
Ergebnisse sind nämlich alles andere als langweilig!
Irene Hummel (Text + Photos)
Anne Holt: Blinde Göttin (btb-Taschenbuch, Goldmann Verlag, 1997, DM 15,-)
Anne Holt: Selig sind die Dürstenden, (btb, 1998, DM 16,-)
Anne Holt: Das einzige Kind (Piper Verlag, 2000, DM 16.90)
Anne Holt und Berit Reiss-Andersen: Im Zeichen des Löwen (Piper Verlag, 2000,
DM 18.90)
Anne Holt: Das achte Gebot (Piper Verlag, 2001, DM 39.80) |
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