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"Ich habe mich nie so ganz für ein menschliches Wesen gehalten, und das
ist ein ganz herrliches Gefühl", schrieb Margaret Anderson voll Vergnügen
nieder, als sie, irgendwann Mitte der Zwanziger Jahre, daran ging, ihre Autobiographie
zu verfassen. "Ich bin keines Ehemannes Ehefrau, keines Mannes entzückende
Geliebte, und ich werde nie, nie, niemals eine Mutter sein. Ich habe mich immer ganz
entschieden aus allen Naturgesetzen herausgehalten."
Margaret bestand auch darauf, keine Schriftstellerin zu sein. Dass sie Unmengen von
Leitartikeln verfasst, drei Bände ungewöhnlicher Memoiren, ein Buch über
den russischen Mystiker Gurdijew und mehrere unveröffentlichte Kurzromane geschrieben
hatte, darunter einen über lesbische Liebe, tat nichts zur Sache.
Nach ihrer eigenen Beschreibung war sie eine Person, die gern über Ideen nachdachte,
eine "Dilettantin" aus Chicago, die entschlossen war, ein literarisches
Magazin zu starten, das die beste und gewagteste Literatur ihrer eigenen Epoche veröffentlichen
sollte.
Die schicke blonde Margaret wirkte eher zurückhaltend in ihrem dunkelblauen
unauffälligen Schneiderkostüm und dem eleganten Hut. Aber das Erscheinungsbild
kann täuschen, wie das Magazin zeigte, das sie 1914 gründete, unter dessen
schlichter bräunlicher Hülle sich unleugbar provokante Inhalte verbargen.
Margarets Geisteskind, The Little Review, das sie schließlich nach Greenwich
Village mitnahm, war das ambitionierteste Kunst-Magazin, das in Amerika je erschienen
war, und Margarets ausgeprägte Persönlichkeit und ihr Wagemut entsprachen
dem genau.
"Es war Kunst", sagte Ben Hecht. "The Little Review war schlicht und
einfach nichts als Kunst." Ezra Pound nannte es "ein unbekümmertes
kleines Heiden-Blatt". "Margaret war die einzige unter Amerikas Herausgebern",
meinte er, "die je das Bedürfnis empfunden oder die Verantwortung auf sich
genommen habe, die besten Schriftsteller in einer Monatszeitschrift zusammenzubringen."
(...)
"Hysterisch", so beschrieb Gertrude Stein Margaret Anderson, als sie sich
in den Zwanziger Jahren in Paris trafen. "Wild" war das Etikett, das Freunde
aus der mittelwestlichen Stadt Indianapolis ihr anhefteten, wo sie 1886 geboren wurde.
Margaret, so bemerkte ihre Freundin Janet Flanner, sei jemand gewesen, deren Grundverhalten
eine große Bandbreite höflicher Anarchie aufwies. Gesetzlos von Natur,
verbrachte Margaret ihre Kindheit damit Pläne zu entwickeln, um ihre geordnete
bürgerliche Erziehung über den Haufen zu werfen. Obwohl sie bereit war
aufs College zu gehen, weigerte sie sich schlichtweg irgendwelche Vorlesungen zu
belegen. Im vierten Studienjahr ließ sie ihren Vater wissen, dass ein weiterer
Aufwand für ihre Bildung nicht vonnöten sei. Sie ginge nach Chicago. Ihre
Eltern protestierten. Es schicke sich nicht für eine Frau, für sich selbst
aufzukommen. Sie sei zu jung, zu verantwortungslos, bei weitem zu extravagant. Margaret
hingegen ließ sich nicht umstimmen. Ihrer Ansicht nach war es die erste und
wichtigste Lebensregel, immer nur das zu tun, was man wollte. Margaret handelte immer
danach. Sie schrieb umgehend an die Chicagoer Journalistin Clara Laughlin. Wie könne,
wollte sie wissen, ein wirklich nettes, aber aufsässiges Mädchen ihr Elternhaus
verlassen? Clara schlug ihr vor, einmal zu einer Unterredung zu ihr zu kommen und
war dann so hingerissen nach einem Nachmittag in Margarets Gesellschaft, dass sie
ihr auf der Stelle anbot, Bühnengrößen zu interviewen. Derart umgangen
und ausmanövriert, blieb den Eltern nichts anderes übrig als sich geschlagen
zu geben.
(...)
Es folgten eine ganze Reihe vorübergehender Jobs: Margaret las Korrektur, arbeitete
als Angestellte in einem Buchladen, setzte Texte für ein progressives Lyrik-Magazin
und schrieb zahllose Buchrezensionen, in denen sie unumwunden ihre Meinung kundtat.
In kürzester Zeit brachte ihr das einen solchen Bekanntheitsgrad ein, dass eine
der führenden Zeitungen von Chicago ihr die Aufgabe einer Literaturredakteurin
antrug.
Margarets außergewöhnlichem Eigensinn entsprach die vorrangige Grundregel,
dass man nie etwas vortäuschen soll. Das Leben, wie sie es sah, war eine Frage
von "Ja" oder "Nein". Unentschiedenheit war ganz undenkbar, das
Kennzeichen eines trübseligen und urteilsunfähigen Geistes. Nach Margarets
Ansicht war es dringend erforderlich, sich zu jedem Gegenstand, der im eigenen Gesichtskreis
aufkreuzte, zu äußern, sogar zu solchen, über die man wenig oder
gar nichts wusste. Manchmal rezensierte sie, nach eigener Auskunft, an die hundert
Bücher an einem einzigen Nachmittag. Ein rascher Blick auf den Klappentext,
ein weiterer auf den Stil des Buches und schon ging es los: ihre witzigen Formulierungen
waren treffsicher, ihre Erfindungsgabe ohne Grenzen.
Aber auch diese oft boshafte Meinungsmache langweilte Margaret bald. Eines nachts,
irgendwann im Jahr 1913, wurde sie von dem vagen Gefühl erfasst, dass ihr Leben
vom Kurs abgekommen war, und sie erwachte mit der verblüffenden Offenbarung,
die sie später in ihren Memoiren beschrieb:
"Der erste präzise Gedanke war: Ich weiß warum ich deprimiert bin:
nichts inspiriert mich weiterzumachen. Zweitens: Ich verlange, dass das Leben in
jedem Augenblick inspiriert ist. Drittens: Die einzige Möglichkeit, das zu garantieren,
ist in jedem Augenblick anregende Gespräche zu führen. Viertens: Die meisten
Menschen bringen es nicht einmal zu einem Gespräch; sie haben nicht das Durchhaltevermögen
dazu … Fünftens: Wenn ich eine Zeitschrift hätte, könnte ich meine
Zeit damit verbringen, sie mit den besten Gesprächen zu füllen, die die
Welt zu bieten hat. Sechstens: Großartige Idee. Siebentens: Entschluss, es
zu machen."
Und damit fiel sie in tiefen Schlaf.
Am Morgen war die nächtliche Erscheinung eine vollendete Tatsache geworden.
Obgleich Margarets Idee im höchsten Grade unrealistisch schien, war die Chicagoer
Boheme bereit, sich für ihre Sache einzusetzen. Ein Enthusiast spendete 100
Dollar. Der Romanschriftsteller und Herausgeber Floyd Dell lud zu einer kleinen Abendgesellschaft
ein, bei der sie weitere 450 Dollar einheimste, zusammen mit der Zusage eines beeindruckbaren
Förderers, Dewitt Wing, der, von Margarets Idee und vielleicht auch von der
ansehnlichen Margaret selbst verführt, in aller Eile anbot, die monatliche Miete
und die Druckkosten zu übernehmen. Das war mehr als Margaret hatte erhoffen
können. Das Magazin war so gut wie auf dem Wege.
Auf ihren Entschluss, keine Kompromisse mit dem Publikumsgeschmack einzugehen, war
Margarets stärkstes Engagement gerichtet. The Little Review sollte eine Zeitschrift
für Kunst und Revolution sein, ein Forum für eine offene Meinung, für
intelligente Ideen im Sinne der Künstler.
Die erste Ausgabe erschien im März 1914. Margarets sprühendem Temperament
entsprechend enthielt The Little Review eine aufrührerische Mischung von Beiträgen
und Artikeln über Alles und Jedes, von Nietzsche bis zur Geburtenregelung, von
Bergson bis zum Kubismus, von freier Liebe bis zu der Bewegung der kleinen Bühnen
und Gertrude Stein. Trotz zahlloser Druckfehler — Margaret weigerte sich Korrektur
zu lesen, bevor die Fahnen in Satz gingen — und obgleich einige die Sache ziemlich
"unprofessionell" fanden — "der Triumph einer großäugigen
und hochherzigen Fehlleistung", wie Eunice Tietjens es ausdrückte —, wurde
die Ausgabe begeistert zur Kenntnis genommen.
(...) Als die dritte Ausgabe in Satz ging, begegnete Margaret der Anarchistin Emma
Goldman "gerade noch rechtzeitig, um vor Redaktionsschluss auf der Stelle Anarchistin
zu werden", wie sie sich erinnerte. Völlig entzückt von Emmas flammender
Rhetorik, feuerte sie noch rasch einen leidenschaftlichen Leitartikel zum Lobe der
anarchistischen Ansichten der Roten Emma ab. (...)
Wie Margaret behauptet hatte, setzte das Magazin seine Arbeit uneingeschränkt
fort, abgesehen davon, dass sich ihre Geldverhältnisse abrupt verschlechterten.
Es war kennzeichnend für Margarets unverwüstliche Vitalität, wie sie
sich mit gelassener Bereitwilligkeit ihrer Armut stellte. Ihre häuslichen Verhältnisse
waren ständig im Fluss. Eine Zeitlang lebte sie in einer riesigen, zugigen,
völlig unmöblierten Wohnung. Als nächstes zog sie in ein Haus mit
Ausblick auf das Ufer des Michigan-Sees, das sogar noch billiger war. Als es Frühling
wurde, war ihr klar, dass sie sich nicht einmal diese Unterkunft leisten konnte.
Die Lösung war, gleich an das Ufer zu ziehen, wo sie dicht am Wasser campieren
konnte, noch dazu mietfrei. An diesem Punkt verweigerte ihre kleine Equipe, bestehend
aus ihrer Schwester Lois und deren beiden Kindern, verständlicherweise die Gefolgschaft.
Margaret flehte, versuchte sie zu überreden. Das Leben sei "voller Wohltaten,
wenn man nur richtig darauf bestand". Sie würden "ein unverfälschtes
Nomadenleben führen", versprach sie, "Maiskolben über dem Lagerfeuer
rösten, Kartoffeln in der glühenden Asche backen … am frühen Morgen
und bei Mondlicht schwimmen, große Lagerfeuer und Kaffee und Schinkenspeck
zum Frühstück" haben.
Im Mai war alles geschafft. Margaret`s Truppe hatte Zeltböden aus Holz gezimmert,
die Zeltbahnen befestigt und war mit ihren wenigen Habseligkeiten, einschließlich
der Manuskripte und Fahnen "eingezogen".
Die Tage kamen und vergingen wie im Traum, sagte Margaret. Jeder Morgen begann mit
einem Sprung in den See, danach folgte ein Uferlauf und zum Frühstück gab
es einen über dem Reisigfeuer gekochten Kaffee, der mit Margarets erster Zigarette
abgeschlossen wurde. Ihre Arbeitskleidung bestand aus einer einzigen Crèpe-Georgette-Bluse,
die sie nachts bei Mondschein auswusch, einem Hut und jenem blauen Schneiderkostüm,
in das sie allmorgendlich munter hineinstieg und, so ausgestattet, in das Büro
von Little Review marschierte. Sie legte Wert darauf abends rechtzeitig zurück
zu sein, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
"Das ist also Natur", seufzte sie dann und lehnte sich in ihrem Liegestuhl
zurück, während die Sonne hinter den Horizont glitt.
Wenn die freien Mitarbeiter sich aufmachten und ihre Herausgeberin nicht an ihrem
Platz fanden, pinnten sie das, was sie ihr zu unterbreiten hatten, an einer Zeltbahn
fest. "Sie war immer gepflegt", erinnert sich ein Freund, "so als
tauche sie aus einem duftenden Boudoir auf, und nicht aus einem taunassen Zelt …
und immer kampfbereit."
Alle halfen ihr, wenn sie konnten. Der Lyriker Eunice Tietjens versetzte einen Brillantehering,
um eine Ausgabe von Little Review zu subventionieren. Frank Lloyd Wright spendete
100 Dollar für denselben Zweck. Vachel Lindsey stiftete das Geld, das er mit
einem Preis erhalten hatte. "Sie war so unglaublich schön", meinte
Tietjens, "so lebendig und zugleich so verrückt", dass die Leute sie
verehrten. Sie waren geradezu magnetisch angezogen von ihrem Geist, ihrem restlosen
Wagemut.
(...)
Und dann geschah das Interessanteste, das der Little Review je begegnen
sollte: Jane Heap betrat die Bühne. Diese Frau ließ sich in keine Kategorie
einordnen. Ihr Haar war kurz wie bei einem Mann und sie machte keinen Hehl aus ihrer
Vorliebe für schräge Kleidung, wobei sie dunkle Männeranzüge,
Fliegen und im Winter eine russische Fellmütze zu einem überdimensionalen
Mantel bevorzugte. Mit ihren hohen Backenknochen, ihrer beeindruckenden Körperhaltung,
ihren feingeschnittenen Gesichtszügen und den tiefliegenden gedankenvollen Augen
hatte Jane eine frappierende Ähnlichkeit mit Oscar Wilde und Witz genug, dazu
zu stehen.
(...)
Im Grunde war es leicht, Janes modische Absonderlichkeiten zu übersehen. Janes
Unterhaltung war so umwerfend, dass nichts sonst wirklich von Belang war. Sie war
in Margarets Augen die beste Unterhalterin der Welt. Es ging dabei nicht um Stil
oder Bildung. Nicht einmal um Wahrhaftigkeit. Es war die Art, wie Jane etwas ausdrückte.
Niemand konnte sich mit dem gleichen durchdringenden Verstand, mit der gleichen packenden
Präzision über das Leben äußern. Sie hatte eine Art, ein bedeutungsvolles
Wort "so persönlich" anzubringen, fand Margaret, dass es dem Thema
eine sonderbare Wendung gab. Janes ungewöhnliche Kindheit erklärte ihren
besonderen Blickpunkt nur zum Teil. Sie war unter den Insassen eines Irrenhauses
aufgewachsen, wo ihr Vater arbeitete, umgeben von Einsamen und Verwirrten. Aber das
allein erklärte Janes Einzigartigkeit nicht. Sehr vieles an ihr war ganz sie
selbst. Ihre prägnanten Äußerungen waren legendär, wie der über
den in Paris arbeitenden Schriftsteller und Verleger Robert McAlmon: er sei "ein
Epileptiker, dem es an Mumm für Anfälle fehlt". Und von Burton Rascoe,
dem Literaturredakteur der Herald Tribune sagte sie, "er würde die Sphinx
außerhalb von Ägypten nicht erkannt haben". Und als Anerkennung für
jemanden, der sie — erst kürzlich — verstanden habe, merkte sie an: "Eine
Hand, die genau die Oktave fasst, die ich bin." Ein andermal antwortete sie
auf Andersons Aufschrei "das Leben sollte Ekstase sein" nur lakonisch:
"Warum sich auf Ekstase beschränken?"
Es war unmöglich, die Ekstase in Janes Reden, diese sonderbare beißende
Brillanz, diese trickreiche Ökonomie ihrer Worte einzufangen.
Mit Janes Ankunft begann für Margaret ihr "zweites Leben", ein "neues
unerwartetes Extra-Leben…" Von dem Augenblick an, als Jane auftrat, flogen die
Federn, gab es genau das Drama, das Margaret so entzückte.
Im Februar 1916 war das Magazin gerade zwei Jahre alt. Margaret war, nachdem das
Zwischenspiel ihres Lebens am See vorbei war, wieder nach Chicago zurückgezogen.
An diesem Tage suchte eine reiche Erbin, die Margaret boshaft mit "Nineteen
Millions" betitelt hatte, das Büro des Magazins auf. Margaret hoffte natürlich,
dass ihre wohlhabende Besucherin bereit sein werde, sich im Interesse der "Kunst"
von ein paar Pennies zu trennen. Der Flirt war schon ganz gut im Gange. Wenige Minuten
zuvor war Jane erschienen, pflanzte sich imposant auf und hörte zu, wie "Nineteen
Millions" Meinungen hervorsprudelte. Jane beobachtete sie interessiert, gab
dann ein sanftes Lachen von sich und warf eine sarkastische Bemerkung ein. "Nineteen
Millions" blickte Jane voller Wut an. Dann stampfte sie plötzlich hinaus
und murmelte dabei, dass sie mehr als alles andere "Frivolität verabscheue".
In diesem Moment wusste Margaret, dass sie immer mit dieser Art Frivolität leben
wollte.
Für die nächsten sieben Jahre waren Margaret und Jane unzertrennlich. Wenn
sie erst einmal redeten, sagte Margaret, konnten sie nicht mehr aufhören. Im
Juni waren sie ein Liebespaar.
Sie waren so verschieden wie zwei Liebespartner nur sein können. Bei dem Gegensatz
ihrer Temperamente stimmten sie selten überein, waren aber immer intensiv beteiligt,
besonders wenn sie stritten, also eigentlich immer. "Jane war die Erde für
Margarets Feuer", so hat es der Kulturhistoriker Steven Watson ausgedrückt,
"der Kerl für die Frau in ihr, die Depressive im Kontrast zur Hysterika."
(...)
Es war an der Zeit, eine neue Nummer von The Little Review herauszubringen. Verglichen
mit ihrer glanzvollen Unterhaltung, bemerkte Margaret, war die Mittelmäßigkeit
der eintreffenden Manuskripte kaum zu ertragen. "Warum sich derart plagen, nur
um die Langeweile endlos fortzusetzen?" Aus Protest publizierten sie eine Ausgabe
mit leeren Seiten, 64 leere weiße Seiten mit einer Erklärung. Sie hätten
keine Zeitschrift produziert, weil keine Kunst produziert worden sei. "The Little
Review hofft eine Kunst-Zeitschrift zu werden. Das September-Heft steht für
entsprechende Angebote offen."
Es war Zeit für einen Standortwechsel, fand Margaret. Sie mussten nach New York
ziehen. (...)
Ihre erste Nacht in New York verlief unheilverkündend. Margaret wäre gern
auf einem Schlachtross in die Stadt eingezogen. Aber mit Jane zu reisen glich eher
einem Ritt auf einem bockenden Esel. In dem Augenblick, als sie in den Zug stiegen,
fiel Jane in eine schier ausweglose Depression. Als sie im Taxi downtown fuhren,
sah sie nicht einmal aus dem Fenster. Als sie dann im Brevoort-Hotel ankamen, warf
sie sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und blieb so bewegungslos liegen.
(...)
In den Jahren zwischen 1917 und 1923 gab es kaum einmal eine Woche, in der Margarets
und Janes Morgenkaffee gesichert war. Sie mieteten ein kleines Souterrainbüro
in Greenwich Village für 25 Dollar im Monat und fanden ganz in der Nähe
eine ähnlich billige Wohnung, vier geräumige Zimmer über einem Bestattungsunternehmen
in einem sonst ganz ansehnlichen Haus. (...) Sie hängten ein großes Sofa
mit schweren schwarzen Metallketten an die Decke und bedeckten es mit selbstgenähten
Seidenkissen in Smaragdgrün, Magentarot, Purpur und Lindgrün. Ein großer
Lesetisch und eine einsame zitronengelbe Lampe standen Wache zwischen den Fenstern.
Für The Little Review begann jetzt, was Margaret die kreativste Periode nannte.
Unter Margarets Leitung war sein Inhalt lebendig und regellos gewesen, ein genaues
Spiegelbild ihrer sprunghaften Begeisterungen; die Stimme der Herausgeberin, teils
gewollt bohemehaft-lässig, teils anarchisch im Ton, war in ihren Äußerungen
von wilder Inkonsequenz. Jane gab dem Blatt einen Brennpunkt und eine klare Organisation.
Ihr Urteil war scharfsinnig, ihre Aufmerksamkeit unerschütterlich.
(...)
Sie und Jane fanden den preiswertesten Drucker in New York, einen Mr. Popowitsch,
dessen Mutter Poeta Laureata von Serbien gewesen war. Sie gingen oft in seine Druckerei
und halfen ihm beim Setzen und Zusammenfalten der Bogen, um Zeit zu sparen — eben
die Zeit, die sie dann wieder verloren, indem sie Mr. Popowitschs Töchtern laut
Wyndham Lewis vorlasen.
(...)
The Little Review wurde allmählich zum wichtigen Treffpunkt für moderne
Literatur, vieles davon wurde von Frauen geschrieben. Neue Arbeiten von Gertrude
Stein, Mina Loy, Djuna Barnes, Mary Butts, H.D. (Hilda Doolittle), Dorothy Richardson
und Marianne Moore erschienen jetzt regelmäßig auf ihren Seiten und trugen
zu ihrem wachsenden Glanz bei. Künstler und Schriftsteller verfolgten Margaret
und Jane inzwischen geradezu und versuchten in ihren Kreis einzudringen. Jüngere
Dichter kamen mal eben zu einem Gespräch vorbei. Ihre Redaktionsräume wurden
zu einer Oase für aufsässige Bohemiens, unter ihnen viele Frauen.
(...)
Unglücklicherweise erstreckte sich Janes magische Begabung nicht auf ihre Insolvenz.
Obgleich das Magazin immer mehr an Format gewann, erreichte es nie den Status, wo
es sich trug. "Das Geld mochte einfach nicht eingehen", formulierte Margaret
es elegant. "Es ist viel leichter ein Publikum für Ideale zu finden als
für Ideen", bemerkte sie nicht ohne Bitterkeit.
Als Gertrude Stein Margaret vorwurfsvoll mitteilte, dass sie es für kein gutes
Prinzip halte, die Künstler nicht zu bezahlen, gab Margaret zurück: "Es
ist immerhin ein bisschen besser als sie nicht zu drucken."
Ein andermal, als sie beschuldigt wurde, das Magazin, das sie mache, sei "eine
Orgie des l’art pour l’art, gab sie sardonisch zurück, "ob es lieber l’art
pour l’argent sein sollte?"
(...)
Ein Teil der dynamischen Entwicklung von The Little Review war auch auf die Mitarbeit
von Ezra Pound zurückzuführen, der 1917 Auslandsredakteur des Magazins
wurde und, wie Anderson und Heap, zutiefst daran interessiert war, der Welt neue
Begabungen vor Augen zu führen. (...) The Little Review kamen nun Arbeiten von
T.S. Eliot, Wyndham Lewis, Ford Maddox Ford, H. D. und anderen europäischen
Modernen, die zum Prestige des Magazins beitrugen. In den nächsten Jahren stellte
das Magazin nicht nur die beste moderne Literatur vor, die in England und Frankreich
geschaffen wurde, es wurde vor allem zum wichtigsten Sprachrohr für die amerikanische
Avantgarde.
Pound war es auch, der Margaret das erste Kapitel eines "dicht geschriebenen
Manuskripts" zuschickte, das er dringend empfahl, obgleich er nicht sicher sei,
ob sie es drucken wollten, "da es das Magazin wieder mit den Zensoren der Postbehörde
in Konflikt bringen würde". Bei dem Manuskript handelte es sich um nichts
weniger als Ulysses von James Joyce, das immer noch unbekannte und unbeachtete moderne
Meisterwerk des Jahrhunderts. Aber Pound hatte Margaret unterschätzt, die sofort
die Größe des Ulysses erkannte.
"Das ist das allerschönste Stück Literatur, das wir je haben werden.
Wir werden es drucken und wenn das die letzte Anstrengung unseres Lebens ist."
In den nächsten drei Jahren druckte The Little Review monatliche Fortsetzungen
von Ulysses, ungeachtet der Tatsache, dass vier Extra-Ausgaben wegen vorgeblicher
Obszönität (von der Post, Anm. d. Red.) verbrannt wurden. "Jedes Mal,
wenn das passierte", sagte Margaret, "war es wie eine Verbrennung auf dem
Scheiterhaufen."
(...)
Inzwischen waren die Herausgeberinnen von The Little Review in eine neue Wohnung
in der West 8 Street umgezogen, in den obersten Stock eines kleinen Backsteinhauses,
in dem auch der Washington Square Bookshop untergebracht war, der wichtigste Abnehmer
des Magazins. In eben diese Wohnung trat eines Morgens die exzentrische Baroness
Elsa von Freytag-Loringhoven, die sich gerade vorher ihren Kopf knallrot lackiert
hatte. (...)
In einen Bogen aus schwarzem Krepppapier gehüllt, den sie aus einem Trauerhaus
entwendet hatte, war die Baroness hereingetänzelt und hatte ein paar Runden
gedreht, um ihren lackierten Schädel von allen Seiten zu präsentieren,
wobei das Rot grell gegen das schauerliche Dunkel der Wände abstach.
"Sich seinen Schädel kahl zu rasieren ist so, als hätte man eine neue
Liebeserfahrung", schnurrte die Baroness. Dann warf sie plötzlich ihre
Hülle von sich. "Nackt bin ich besser."
(...)
Von jenem Augenblick an, als die Baroness vor drei Jahren in ihrem Büro aufgetaucht
war, hatten Margaret und Jane bemerkt, dass sie einzigartig war. Ein bemerkenswertes
Gedicht, das die Baroness anonym und mit einer kryptischen Widmung für Marcel
Duchamp eingesandt hatte, überzeugte die beiden Verlegerinnen von ihrem großen
Talent. Jetzt konnten sie das Gedicht mit der gleichermaßen bemerkenswerten
Person verbinden. (...)
Etwa zur gleichen Zeit nahmen die Herausgeberinnen von The Little Review die erste
Story von Djuna Barnes an, womit eine etwas unsichere Freundschaft begann, die, nach
Margarets Worten "großartig hätte sein können, wenn Djuna nicht
immer von einem tiefen Misstrauen gegenüber unserer Art zu leben und uns zu
unterhalten erfüllt gewesen wäre."
(...)
Djuna wiederum beobachtete Margaret mit wachsamem Respekt. Obgleich sie sich über
deren Pingeligkeit mokierte und behauptete, sie wüsche sogar noch die Seife,
ehe sie sie benutzte, schrieb sie Jahrzehnte später in einem Brief, in dem sie
sich an Margaret erinnerte:
"In ihren jungen Jahren fand ich sie nie wirklich gut aussehend wie viele andere
es taten, aber jetzt ist sie schön — das meine ich wirklich. Ihr ernstes Gesicht
ist auf schöne Weise tragisch, und ihr Lächeln hat einen reizenden rührenden
Charme."
Später warf Margaret Djuna vor, sie habe "ein Äußeres, das überwältigend
sei", und ein Innenleben, von dem sie nicht das Geringste wisse. Für Margaret
war es schwierig, eine "Beziehung zu irgendjemandem herzustellen, der sich sozusagen
nicht mit der eigenen Psyche verständigen könne".
Die Wahrheit war komplizierter. Der Keim für Margarets Feindseligkeit lag zweifellos
in einer Affäre, die, wie ein Gerücht es wollte, sich um 1918/1919 zwischen
Djuna und Jane Heap abgespielt hatte.
(...)
Wie tief immer das Misstrauen zwischen Margaret und Djuna ging: es spricht für
Margaret, dass sie Djunas Arbeiten — die sie trotz ihres persönlichen Zerwürfnisses
tief bewunderte — immer druckte.
(...)
Nachdem sie die harte Prüfung eines Gerichtsprozesses hinter sich hatten, teilte
Margaret Jane Heap mit, sie habe den Eindruck, dass es an der Zeit sei, das Magazin
einzustellen. The Little Review näherte sich ihrem zehnten Geburtstag.
Das Magazin "hatte ganz logisch mit der Unartikuliertheit einer göttlichen
Inspiration begonnen. Es sollte logischerweise mit der höchsten Artikulation
der Epoche enden — mit Ulysses."
Jane empfand das nicht so definitiv. Mehr denn je war es jetzt wichtig, so wandte
sie ein, The Little Review am Leben zu erhalten. Wenn es jetzt sein Erscheinen einstelle,
käme das einer Fahnenflucht gleich. Außerdem, fügte Jane hinzu, könne
Margaret das Magazin nicht aufgeben — sie habe es doch begründet. "Natürlich
kann ich es aufgeben", gab Margaret zurück. "Ich übergebe es
dir."
(...)
Sie stritten sich wochenlang. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Margaret wie gelähmt,
empfand sie eine Ungewissheit von zuvor nie gekannten Ausmaßen. (...) Wie weit
auch immer diese Krise ging, der Riss zwischen den beiden Frauen ging tiefer als
ihr Zerwürfnis über die Zukunft des Magazins, denn Margaret verließ
Jane einige Monate später einer neuen Liebe wegen — zu der faszinierenden Opernsängerin
Georgette Leblanc.
Wie alles, was sich in Margarets Leben ereignete, wirkte auch Georgettes Anziehung
auf der Stelle und absolut. Knapp ein Jahr nach ihrer Begegnung waren Margaret und
die um zwanzig Jahre ältere Georgette zu Schiff unterwegs nach Frankreich, um
dort ein neues Leben zu beginnen. Jane, deren Gepäck nur aus The Little Review
bestand, sollte bald dort mit ihnen zusammentreffen, allerdings kehrte sie noch innerhalb
des gleichen Jahres mit dem Magazin nach New York zurück. Von 1924 bis 1927
machte Jane allein weiter, ließ The Little Review zunächst alle zwei Monate,
als ihr dann die finanziellen Mittel ausgingen, einmal im Jahr erscheinen. Das Magazin
blieb dessen ungeachtet auch weiterhin ein Sprachrohr für die neuesten Entwicklungen
in der Kunst, mit Sonderausgaben zu Dada, Konstruktivismus, de Stijl, Surrealismus
und Maschinen-Ästhetik. 1926 eröffnete Jane — als Erweiterung des Magazins
— eine Kunstgalerie in der Fifth Avenue und brachte in diesem Jahr die erste Ausstellung
russischer Konstruktivisten in Amerika zusammen. Eine epochemachende, dem Maschinen-Zeitalter
gewidmete Schau folgte im nächsten Jahr und machte Schlagzeilen in der Presse.
Margaret war während dieser Zeit in Frankreich.
1929, fünfzehn Jahre nach den Anfängen von The Little Review kam Jane zu
dem Schluss, dass das Magazin jetzt wirklich seinen Weg beendet hatte. Zusammen mit
Margaret bereitete sie in Paris die letzte, und wie sich zeigte, umfangreichste Ausgabe
vor: über 100 Seiten. Jane schrieb das Abschieds-Editorial, in dem sie sagte,
dass die Revolution in den Künsten, die vor dem Krieg begonnen hatte, "eine
Renaissance herbeigeführt habe", und dass The Little Review ein Instrument
dieser Renaissance gewesen sei, indem das Magazin "23 neuen Kunst-Systemen aus
19 verschiedenen Ländern Raum gegeben habe". Dies sei nun vorbei, es sei
Zeit, sich weiter voranzubewegen.
Margaret Anderson hat ihren lebenslangen Kreuzzug gegen die Realität nie aufgegeben.
Das Etikett "Dilettantin" nahm sie immer stolz für sich in Anspruch.
Wenn irgendjemand sie angriff mit der Bemerkung, sie sei ungebildet, stimmte sie
bereitwillig zu.
Lernen, so meinte sie, sei immer eine mühevolle Tätigkeit neben dem Verstehen
gewesen, das ja ganz gewiss auch ohne umfangreiches Studium möglich sei. Obgleich
Margaret einmal den Schwur geleistet hatte, dass "sie nie, nie eine Mutter"
sein würde, war diese Rolle ihr schließlich gar nicht so fremd: immerhin
hatte sie nicht nur die Vision einer radikalen neuen Zeitschrift geboren, sondern
auch den revolutionären Visionen zahlloser anderer, darunter vieler Frauen,
als Hebamme gedient. Bei aller Flüchtigkeit und Inkonsequenz hatte Margaret
Wort gehalten. Sie hatte in der Tat die kühnste Literatur-Zeitschrift produziert,
die Amerika je gekannt hat und sich, wie sie es versprochen hatte, entschieden von
allen Naturgesetzen frei gehalten, insbesondere vom Gesetz der Wahrscheinlichkeit.
Margaret verwirklichte ihre Phantasien. Sie ist die begeisterndste und unverfälschteste
Selbst-Erfindung, die einem Biografen begegnen kann. "Ich werde sterben wie
ich gelebt habe …" versprach sie in ihren späten Jahren. "Ich gehe
einfach in einen Traum hinein."
Abdruck in Auszügen aus "Crazy New York - Die Frauen von Harlem und
Greenwich Village" von Andrea Barnet (ISBN 9783934703278) mit freundlicher
Genehmigung der edition ebersbach.
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