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Gertraut Bertram wurde zu einer nach außen katholisch engagierten Krankenschwester,
in ihrer Freizeit rauchte und trank sie damals schon heftig (und das gab sie niemals
auf...). Von 1964 bis 67 besuchte sie ñ wie geplant - die Höhere (Frauen-)
Fachschule für Sozialarbeit mit dem Studienschwerpunkt Randgruppenarbeit, ihr
Studium verdiente sie sich im alten Beruf. Sie befolgte die vorgeschriebene Normalbiographie
und heiratete einen Studienkollegen Müller, immerhin ein Mann, der ein ähnlich
verwaistes randständiges Lebensgefühl hatte wie sie. Und sie stürzte
sich immer engagierter in die Arbeit. Erstmals arbeitete sie in einer Siedlung ihres
Wohnortes Köln-Poll in der Bildungs- und Beratungsarbeit mit wohnungslosen Mädchen
und Frauen. In der Obdachlosenarbeit war sie erstmals in ihrem Element: Als sich
Ende der 60er Jahre die Obdachlosen aus dem gesamten Stadtgebiet zusammenschlossen,
koordinierte die junge Sozialarbeiterin die Aktivitäten, führte Großveranstaltungen
durch, gab die Obdachlosenzeitung heraus, führte Verhandlungen mit der Stadtverwaltung,
betrieb eine ungewöhnlich breite Öffentlichkeitsarbeit - wie wir heute
sagen würden - und sprach mit Politikern verschiedener Couleur... Sie setzte
die Arbeit unbezahlt fort, als bei der inzwischen gegründeten Interessengemeinschaft
Obdachlosigkeit kein Geld mehr da war. Hier knüpfte sie Kontakte fürs Leben,
bekam Connections, lernte Persönlichkeiten wie Dorothee Sölle und Maria
Mies kennen, hatte viele Bekannte aus dem journalistischen Bereich. Gertraut verstand
sich aufgrund der gewonnenen Einsichten bald als Sozialistin, war aber ñ ebenso wie
vorher in ihrem religiösen Leben und später als Feministin - nie eine Buchstaben-Frau,
sondern bodenständige Praktikerin. Links aus Erfahrung, begriff sie viel, ohne
je Marx zu lesen und galt zwar später bei den Frauen zwar schon als Linke, aber
irgendwie auf andere Art als sie selbst. Gertraut wiederum wusste genau: "Die
Studierten verstehen die Arbeiterinnen gar nicht!"
Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre trat eine bedeutsame Frau in ihr Leben. Beim
Flugblätter-Verteilen vor der Antoniterkirche hatte ihr eine ältere Dame
intuitiv ihre gleichfalls sozial engagierte Tochter ans Herz gelegt, die beiden trafen
sich (witzigerweise im Hotel Timp, damals Tagungsort einer katholischen Gruppe, heute
ein berühmt-berüchtigtes Transvestitenlokal). Sie wurden bald Mitarbeiterinnen.
Als besagte Gisela eines Tages leicht dahinsagte: "Ich habe mich verliebt ...
in eine Frau" bekam die verheiratete Kollegin Müller das Gefühl, "es
täte sich ein Tor auf und sie stürze mitsamt ihrem Sessel in einen Abgrund".
Sie schaute ñ wie sie sich noch zwanzig Jahre später erinnerte - ihr Gegenüber
"wie auf Droge" an, sagte nur, "Ich glaube, da müssen wir mal
drüber reden" und verließ stehenden Fußes das gemeinsame Büro.
Zuhause erzählte sie dem Gatten von der Begegnung der dritten Art, - dieser
hatte schon befürchtet, dass ihre unterdrückten Neigungen, die sie ihm
einmal in einer langen alkoholisierten Nacht anvertraut hatte, wieder durchkommen
würden. Der Ehemann wollte es tapfer durchstehen, billigte ihr auch gewisse
Freiräume zu, aber das ging langfristig nicht gut. Gertraut und Manfred zogen
in zwei Wohnungen in einem Haus.
In den späten 60er Jahren waren frauenliebende Frauen in der Öffentlichkeit
allein durch Kriminalfälle oder psychiatrische Abhandlungen präsent. Keine
Literatur, keine Sendungen verbreiteten ihre massenhafte und gar lustvolle Existenz.
Gerade die ihr so wichtige katholische Kirche vermittelte der Kölnerin hochgradige
Schuldgefühle. Gertraut hatte kein Wort für ihren Zustand, kannte zwar
das Wort homosexuell, aber bezog es nicht unbedingt auf sich. Niemand redete mit
ihr über ihre normabweichenden Empfindungen; so lebte sie in dem Bewusstsein,
sie wäre damit fast allein auf der Welt, und war bald nur allzu glücklich,
endlich eine zweite getroffen zu haben, die genauso fühlte. Das gab ihr Kraft,
das wollte sie leben. Aber es ging nicht gut, sie litt schrecklich mit/unter der
Dame ihres Herzens, und ihre linken Freunde bezahlten ihr ihre erste Therapiestunde...
Dennoch wusste Gertraut instinktiv: Sie war richtig, sie brauchte auch eigentlich
keine Therapie.
So kam sie auf die Idee, Anzeigen zu beantworten, landete z.B. mit einer vornehmen
Dame aus dem Weinlokal direkt in einer hochherrschaftlichen Rodenkirchener Villa,
wo ein Flotter Dreier mit einem Offizier von ihr gewünscht wurde. Hinter Kontaktanzeigen,
in denen eine Freundin für schöne Stunden gesucht wurden, verbargen sich
oft Ehefrauen, die mal eine Abwechslung suchten und die homosexuellen Frauen nach
Gertrauts Wahrnehmung nur ausbeuteten.
In einer Melange von sich widerstreitenden Emotionen ging sie nun mit dem Thema Homosexualität
(sie nannte es inzwischen ihr "Schwulsein") sowohl schüchtern als
auch lustvoll-draufgängerisch um. Gern berichtete sie von ihrer bangen Vorfreude,
als sie zum ersten Mal in Begleitung eines eingeweihten Freundes und Kollegen, eines
evangelischen Pastors, ein Kölner Frauenlokal betrat, in dem "Lesbierinnen"
verkehrten, das Kölner "Frauencenter George Sand". Auf seine Frage:
"Sag mal was ist eigentlich mit dir, ich spüre doch andauernd, dass es
dir nicht gut geht?" waren sofort die Tränen gelaufen. Er wusste schon,
was mit der Müller los war, und hatte ihr angeboten, sich zu erkundigen, ob
es nicht in Köln Clubs gäbe, wo sie hingehen könne. Er hatte sie sogar
ermutigt: "Mach dir doch keine Gedanken, du hast doch auch was zu bieten, es
muss doch eine verlässliche nette Frau für dich zu finden sein!" Bei
seinen Recherchen war er dann auf das besagte Lokal am Neumarkt gestoßen, zu
dem auch "kultivierte" Männer Zutritt hatten, und er hatte angeboten,
sie dorthin zu begleiten. An einem Samstag Abend betrat unsere Gertraut, nach damaligen
Verhältnissen dezent gestyled und drei mal neu umgezogen, das George Sand, das
an Weiberfastnacht 1968 (noch unter dem Namen Chalet) eröffnet worden war und
von einer dominanten Kultur-Liebhaberin, Ma Braungart, geführt wurde/wird. Nervös
trommelte Gertraut auf den Tisch, wusste nicht, was tun, nutzte aber dann doch die
Gelegenheit, sich einmal in Ruhe umzusehen: Es waren eigentlich alles ganz normale
Leute da, gar nicht die, die sie gesucht/erwartet hatte. Der Pastor ließ sie
beruhigt alleine.
Ma (eigentlich Margarete Amanda) ñ so erfuhr Gertraut im Laufe der Zeit ñ hatte das
Lokal "George Sand" gegründet, weil Frauen zu dieser Zeit nicht allein
ausgehen konnten, ohne von männlichen Gästen belästigt zu werden,
und sei es die selbstgefällige Getränkeeinladung aus der Ferne. Eine direkt
lesbische Färbung war nicht beabsichtigt, und auch wenn das Hauptklientel aus
homosexuellen Frauen bestand, waren Zuneigungsbekundungen in diesen heiligen Hallen
unerwünscht und wurden negativ sanktioniert. Die Matriarchats-Liebhaberin Braungart
wünschte Kultur statt Subkultur ñ was die Subfrauen deutlich spürten: "...die
Ma, das George Sand, nahm für sich in Anspruch, die gehobene Klasse zu sein."
(Jutta) Die Frauen im George Sand waren Gertraut letztlich zu "Schicki-Micki",
damit hatte sie nichts zu tun.
Bald darauf lernte sie das berüchtigte Cafe Wüsten (Hohe Pforte) kennen,
nach Meinung einiger eine Schwulenkneipe, in der auch Lesben verkehrten, nach Meinung
anderer ein Lesbenlokal, in das der geldorientierte Wirt gerne auch Männer hereinließ.
Die frühere Kellnerin Jutta berichtete: "Wüsten lebte hauptsächlich
nicht von den Frauen. Die waren eigentlich nur da, damit die anderen kamen und das
Geld ausgaben. Die Männer mussten sich vorne hinsetzen, da war ein Rundbogen
mit zwei Samtvorhängen, die wurden freitagsabends ab sieben Uhr geschlossen.
Die Damen waren also hintendrin für sich, und vorne saßen die Männer
und versuchten, um die Ecke zu gucken." Der dicke schwule Wirt Hens saß
mit seinen fast drei Zentnern stoisch an der Tür und kommandierte einen kleinen
Kellner herum - viele Lesben wandten sich bei Problemen an den gehunfähigen
Mann. Bei den Frauen bediente seit ca. 1967 die laut Gertraut stämmige, witzige
und kampferprobte Jutta, die ihre Klientel scharf beobachtete und alles über
sie
wusste. "In ihrer direkten Art ging sie rigoros mit unseren unterschiedlichsten
Verhaltensweisen um. Lokalverbot war ihre schärfste Waffe. Das wieder aufzuheben
war schwieriger, als eine Prüfung zu bestehen." Hier waren die lesbischen
Frauen bunter gemischt: "Arbeiterinnen, herausgeputzte Damen, Sekretärinnen,
Akademikerinnen, Frauen, die verliebt nach der unsäglichen Dudelmusik tanzten"
wie ëDann kamst duí, und ëMit dir kam die Liebeí oder ëMüssen Frauen einsam
sein?. Der "Treffpunkt von Zuhältern und Prostituierten, Trunk- und Raufbolden,
Homosexuellen aller Schattierungen und Schichten und Frauen, die Frauen liebten"
vereinte "Paare mit engsten Partnerschaftsvorstellungen ñ abgeschottet gegen
die Welt" und "Einsame, die stumm Alkohol in sich hineinkippten, wartend,
ob nicht eine kommen und Erlösung bringen würde." Die heterosexuellen
Paarbeziehungen wurden bis ins Detail spiegelbildlich nachgezeichnet: "Getränke
und Bestellungen zeigten, wer welche Rolle spielte." "Beim Wüsten
gab es alles", erinnert sich Jutta in einem Interview, besonders eine noble
Kundin mit Sonderwünschen blieb ihr präsent: "Es gab eine Frau, die
kam mit Chauffeur und wohnte im Domhotel oder im Excelsior. Die rief abends an und
sagte: ëIch schick den Chauffeur. Haben Sie was da?í Ich sagte: ëWas sollës denn
heute sein? Blond oder braun?í Sie kam oder ließ sich ein Mädchen holen."
Die, die auf den Strich gingen, saßen abends "ganz offiziell" dabei
und ließen sich von den Freiern ansprechen, und alle, "die durchgemacht
hatten, kamen morgens zum Wüsten Kaffeetrinken...". Zwischen der Unterwelt
verkehrten die "normalen" Leute, die sich anfänglich vielleicht einfach
nur hineinverirrt hatten. "Hausfrauen, die im Kaufhof waren, die haben da geparkt
und wussten dann gar nicht, wo sie gelandet waren. Die saßen da mit ihrem Kaffee,
und wenn sich das nachmittags füllte, dann guckten sie immer ganz irritiert
rechts, links. Haben ihr Käseschnittchen auf dem Tisch rumgeschoben und gar
nicht mehr hochgeguckt. Aber wenn die dann die Woche drauf wiederkamen, wusste ich,
dass die irgendwann hängen blieben", stellte Jutta fest.
Die vorhandenen dark rooms im Keller mit großer Matratze und Spiegel unter
der Decke dienten nicht der Luststeigerung, sondern waren der einzige Ort für
sich liebende Frauen, sich überhaupt sexuell zu begegnen. "Wenn die Damen
dann nach drei Stunden raufkamen, was ja nun keiner wissen sollte, taten sie, als
wenn sie von der Toilette käme und setzten sich wieder hin. Dann erhob sich
Wüsten ... und rief: ëAlles in Ordnung da unten? Waren frische Handtücher
da?í Da wusste dann natürlich jeder, was abgelaufen war. Dann kriegten die natürlich
erst mal so einen Kopf, aber was wollten sie machen?" Unter den Halbseidenen
die große Gruppe der Gewaltbereiten, Gewaltgeschädigten, die sich nicht
wirklich öffnen konnten. Eifersuchtsschlägereien waren an der Tagesordnung
und die Polizeiwache direkt gegenüber schreckte nicht ab. Anfang der 70er Jahre
rekapitulierte Gertraut Müller in einem anonym veröffentlichten Text noch
einmal ihre Erfahrungen mit dem Sub: Wucherpreise, kulturelle Verdummung und festgelegte
Geschlechterrollen mit normierten Verhaltensweisen: "Wir verkriechen uns in
Nepp-Lokalen, die uns Lösungen vorgaukeln, die eben nicht zu verwirklichen sind.
Schon beim Betreten einer solchen ëeinschlägigení Bar überfällt mich
schlagartig das Gefühl, auf einem Viehmarkt zu sein." Sie ging regelmäßig
mit dem Mut der Verzweifelten in die wüste Szene, fühlte sich aber in dieser
Heimlichkeit, halbkriminellen Umgebung und mit den stereotypisierten Rollen-Erwartungen
definitiv nicht wohl, sondern "taxiert und festgelegt". Wie viele andere
Lesben fand sie in diesen sexuell angeblich so revolutionierten Zeiten keine Möglichkeit,
"eine menschliche Bindung einzugehen", fühlte sich in einer "aussichtslosen
Lage".
Die anpolitisierte Ehefrau führte weiterhin ein Doppelleben, hatte "schweigend
... Verbindung zu einem Ort, der kaum in mein inzwischen sozialistisches Credo passte"
ñ nutzte das Etablissement als "Wohnzimmer, wo am Wochenende rauschende Nächte,
eifersüchtige Dramen bis zu Prügeleien sich abwechselten mit heißen
Diskussionen: anerkannt zu werden von Eltern, nichtsahnenden Freundinnen und von
Kollegen". Zugleich war ihr der Umgang eigentlich zu ordinär, das Milieu
reizte sie nicht, und die katholische Tradition verhinderte reine Bettgeschichten.
Das Nebeneinander ihrer Lebenswelten dauerte auch in der Frühphase der Frauenbewegung
an. "Von Coming out hatten wir noch nichts gehört. Wir wussten nicht, dass
es noch viel mehr von uns gab. Literatur zum Thema kannten wir nicht."
Ihr Herz war und blieb nun einmal, wie sie feststellte, trotz guten Einvernehmens
mit dem Mann bei den Frauen, sie ließ sich in den frühen 70er Jahren scheiden.
Als sie dies ihren Eltern mitteilte und als Begründung anführte, sie wolle
mit Frauen leben, und gar ihren Eltern vorwarf, dass diese sie nicht davor gewarnt
hätten, sich auf einen Mann einzulassen, obwohl sie doch von ihren "Neigungen"
wussten, antworteten diese: "So Leute wie dich hätte man unter Hitler vergast."
Wieder einmal die Keule der Minderwertigkeit ñ und die familiäre Ausgrenzung:
Gertraut wurde ñ zumindest vorübergehend - enterbt, es herrschte jahrelange
Funkstille.
Fortsetzung im nächsten Heft...
I. Franken, Köln, Oktober 1999 |
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