Deutscher Jazzpreis für Ulrike Haage  
  Ulrike Haage ist eine Grenzgängerin. Pianistin, Keyboard-Künstlerin, Elektronikerin, Klangsucherin, Komponistin, Hörspiel-Autorin, Regisseurin, Verlegerin, das sind nur einige der Bezeichnungen für sie - und alle beschreiben immer nur eine Facette der vielseitigen Musikerin, die in keine simple Schublade passt. Im November bekommt sie den Deutschen Jazzpreis. Aha, Jazzmusikerin also auch?
Ulrike Haage wuchs im Ruhrgebiet auf, hörte schon als Kind Jazz. War Mitgründerin, Pianistin und Komponistin der Frauen-Bigband Reichlich Weiblich. Studierte in Hamburg Musik und Musiktherapie, hatte eine Dozentur mit der Aussicht auf eine Hochschulkarriere. Stattdessen kamen die Rainbirds daher und holten sie auf die Bühnen der Popwelt. Katharina Franck und sie waren viele Jahre lang die Hauptstützen der erfolgreichen Popband. Neben den Rainbirds gab es für Ulrike Haage immer noch andere Ausdrucksbereiche, wie die Improvisationen mit dem Musiker FM Einheit in der Gruppe Goto oder Theatermusik-Kompositionen unter dem Projektnamen Stein.
Nach der Auflösung der Rainbirds betraten sie und Katharina Franck Neuland mit der Vertonung der Briefe von Jane Bowles. In dem Genre Musik und Literatur ist die Wahlberlinerin Ulrike Haage seitdem zusammen mit verschiedenen KünstlerInnen tätig - sie komponierte die Musik für das Album "Reise Toter", eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Poeten Durs Grünbein, entwickelte mit der Kriminalschriftstellerin Thea Dorn das Kunstwerk "Bombsong" und vertonte sowohl die "Last Words" von William S.Burroughs als auch die schriftlichen Zeugnisse der Bildhauerin Louise Bourgeois.
Gerade war Ulrike Haage in Kabul, wo sie auf Einladung des soeben wieder eröffneten Goethe-Institutes einen 14tägigen Musikworkshop leitete und zum Abschluss ein gefeiertes Konzert mit einheimischen Musikern gab. Sie stand "noch voll unter den ganzen Eindrücken" und erzählte Irene Hummel so ausführlich davon, dass alleine das mehrere Seiten gefüllt hätte. Anlass für das Gespräch war aber eigentlich ein ganz anderer: am 8. November wird der Musikerin beim Jazzfest Berlin der Albert Mangelsdorff-Preis verliehen, für "herausragende und kontinuierliche jazzmusikalische Leistungen" und "ihr Lebenswerk".

Herzlichen Glückwunsch zum Jazzpreis! Was bedeutet dieser Preis für dich?
Ich hab mich sehr gefreut, weil der Preis von einer ganz unabhängigen Jury vergeben wird. Ich habe das Gefühl, er wurde mir wirklich für das gegeben, was ich mache und vor allem für meine grenzüberschreitenden Arbeiten. Das freut mich total, weil das eine Form von Anerkennung und Aufmerksamkeit ist.

Stichwort grenzüberschreitend: du bist in vielen Genres zuhause. Was bedeutet Jazz für dich?
Ich komme ursprünglich aus dem Jazz. Ich bin auf dem Klavier mit Jazz und Improvisation groß geworden. Als Kind und Jugendliche habe ich z.B. Miles Davis, John Coltrane sehr gern gehört - auch Free Jazz und experimentelle Sachen. Dinge, die damals für mich meine Welt verändert haben. Aber für mich ist Jazz eigentlich keine Musikstilrichtung, sondern ein Lebensgefühl. Ein Gefühl, das sagt: sei kreativ und lerne deine Gefühle auszudrücken.

Woran arbeitest du gerade?
Im Moment bereite ich meine Soloplatte vor, mit Klavier und Elektronik. Diese CD nenne ich "Sélavy", allerdings wie Marcel Duchamp es geschrieben hat. Das drückt mein jetziges Lebensgefühl aus. Ich möchte wieder mehr Klavier spielen und mehr Instrumentalmusik machen.

Du bist klassische Pianistin - was sind elektronische Klänge für dich?
Elektronische Klänge haben mich in der modernen klassischen Musik immer schon fasziniert. Ich arbeite immer mit beiden Ebenen, mit elektronisch genauso wie mit mechanisch erzeugten Klängen.

Erinnerst du dich an deine erste Begegnung mit einem Computer?
An den ersten Atari, und an die Nächte, in denen man im Backgammon-Spiel kleben geblieben ist am Atari-Computer?! Ich erinnere mich vor allem an meinen ersten Sampler, den Akai-Sampler. Wochenlang habe ich die Nächte durchgearbeitet, um den zu kapieren und um damit zu arbeiten. Ich bin bis heute ein Akai-Fan und benutze live den Akai MPC Workstation, einen Sampler mit Sequencer.

Was ist der Computer für dich?
Ein Arbeitsgerät, ein intelligentes Werkzeug. Aber mehr nicht. Ich habe schon öfter überlegt, was wäre, wenn in meinem Studio von heute auf morgen alles einfach weg ist. Dann habe ich gedacht, das macht gar nichts: dann fange ich wieder an, ein neues Stück zu komponieren.

Du lebst seit über zehn Jahren in Berlin. Was bedeutet Berlin für dich?
Berlin ist für mich immer noch eine sehr eigenwillige Stadt, in der man, glaube ich, am unbehelligsten, am anonymsten und gleichzeitig am öffentlichsten leben kann. Es hat so etwas zwischen Dorf und Großstadt. Und auch eine Mischung von Ausländern und Inländern, die mir gut gefällt. Und die Nähe zum Osten mag ich, die Nähe zu Polen, zu Russland, zu allen osteuropäischen Völkern, die du in anderen Städten wie Hamburg oder Köln gar nicht spürst.

Hast du musikalische Kontakte dahin?
Nein, ich mag die Musik einfach gerne. Einer meiner Haupteinflüsse im Klavier und als ich studiert habe, war Béla Bartók. Ich mochte immer schon die Musik aus diesen Ländern gern, wie Skrjabin, Kodály. Meine Richtung geht gen Osten, über diese Musik immer weiter Richtung arabische Musik, asiatische Musik.

Wie beurteilst du heute die Rainbirds-Zeiten?
Sehr spannend, ich möchte das nicht missen. Diese elf Jahre, die ich mit Katharina Franck die Rainbirds gebildet habe, fand ich ausgesprochen spannend, ausgesprochen lehrreich. Und wir haben das Business auch von seinen harten Seiten kennengelernt. Aber wir haben eben gewisse Erwartungen nicht erfüllt und sind immer unseren Weg weitergegangen.

Die Rainbirds habt ihr vor drei Jahren aufgelöst. Warum?
Damit jeder in seinem eigenen Bereich neue Impulse sammeln kann. Mit "Musik und Literatur" und dem Verlag Sans Soleil habe ich einen ganz eigenen Stil etabliert und viel mit Rundfunkstationen gearbeitet. Das erste, die Briefe von Jane Bowles, war unser erfolgreichstes literarisches Projekt. Es wurde auf allen Rundfunkstationen gespielt, und ziemlich viele Leute haben gesagt, sie wollen jetzt auch Literatur und Musik zusammenbringen.

Zuletzt hast du eine Art Hörspiel über die Bildhauerin Louise Bourgeois gemacht. Wie bist du auf sie gestoßen?
Ich kannte sie schon lange, hauptsächlich ihre Skulpturen. Ich war fasziniert von einer Person, die so immens riesige Skulpturen macht, die ja auch Abneigung hervorrufen, wie ihre riesigen Spinnen. Für sie ist das eindeutig positiv: wenn sie über ihre Spinnen berichtet und die Spinnenbeine streichelt, dann ist das für sie ein nützliches Tier, und es ist wie ihre Mutter. Für manche Betrachter sind Spinnen doch eher gruselig.
Ihre gesammelten Interviews, Schriften und Traumzeichnungen erschienen gerade als Buch. Ich hatte schon vorher die Druckfahnen bekommen und stieß dort auf eine Fülle von interessanten Sätzen, aus der Perspektive einer Frau, einer Künstlerin, die ein ganzes Jahrhundert erlebt hat. Mit welch intellektuellen Fähigkeiten sie ihre eigene Situation reflektiert! Das müssen viele Leute hören, dachte ich.

Wie würdest du deine musikalische Umsetzung beschreiben?
Bei dem Hörspiel habe ich mich zum ersten Mal sehr zurückgenommen. Ich habe wenig komponiert, habe viel mehr mit Materialien gearbeitet, die sie selbst auch benutzt hat, also Klänge aus großen Metallskulpturen geholt, so dass die Authentizität in dem Hörspiel durch die Materialien und den Klang kommt, und nicht durch zusätzlich komponierte Stücke.

Du hast mit sehr unterschiedlichen Stoffen gearbeitet. Haben die KünstlerInnen etwas gemeinsam? Und: was haben sie mit dir persönlich zu tun?
Ja, sie sind auf jeden Fall alle totale Individualisten, sie sind wütend auf die Welt, sie sind authentisch mit sich als Künstler. Sie sind ihr Werk, wie Louise Bourgeois das sagt. Ich glaube, das ist etwas, womit ich mich identifiziere. Ich bin auch das, was ich mache. Ich kann Musik nicht von mir trennen. Es ist immer da, ich reflektiere quasi durch meine Musik die Welt und wie ich sie wahrnehme.

Wie nennst du diese Werke - Hörspiele?
Wir haben es in unserem neuen Katalog einfach nur "Music and Words" genannt. Ich bringe eigentlich zwei Sprachen zusammen und schaffe so eine neue Form von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, damit diejenigen, die das hören, über ihre Assoziationen wieder einen eigenen Film dazu ablaufen lassen können. Vielleicht ist es Filmmusik, was ich mache - ohne Film natürlich.

Louise Bourgeois sagt, ihr Grundthema sei der Schmerz. Was ist deines?
Ich interessiere mich für das Fremde. Das Fremde fasziniert mich immer, das, was ich noch nicht weiß und nicht kenne. Das möchte ich dann kennenlernen, und dann integriere ich das in meine Arbeit. Fremdes, Unbekanntes, andere Kulturen, andere Menschen - das ist vielleicht eine Art Grundthema oder Grundsehnsucht von mir.

Bist du politisch engagiert?
Vor zwei Jahren, als der WDR mir angeboten hat, dass ich ein Feature für sie produzieren kann, hatte ich den Gedanken im Kopf: ich möchte nicht nur Musikerin und Komponistin sein, ich möchte mich irgendwie auch engagieren. Deswegen habe ich das Thema Afghanistan vorgeschlagen, das mich schon seit Jahren bewegt und berührt hat. Vor allem natürlich die Frauen, die Stellung der Frau, die Geschichte der Frau in Afghanistan. Und seitdem läuft bei mir eine kontinuierliche Entwicklung, bis hin zu der Einladung, nach Kabul zu kommen und dort richtig mitzuhelfen.

Kannst du in wenigen Sätzen deine tiefsten Eindrücke aus Afghanistan beschreiben?
Wir haben 99% positive Eindrücke mitgebracht. Es ist alles im Aufbau, aber es ist tatsächlich auch im Aufbau. Diese Stimmung ist sehr positiv und sehr schön. Irritierend und erzürnend ist, dass immer noch unheimlich viel Angst vor den Taliban in der Luft liegt. Im normalen Straßenbild merkst du, dass die Leute immer noch unglaublich eingeschüchtert sind. Ein Großteil der Frauen läuft in der Burkha herum. Die meisten meiner Studenten - 18 Männer, eine Frau - kamen gerade erst zurück aus Flüchtlingslagern, und fast alle haben gesagt, dass sie Musik studieren wollen, weil das ein Seelenheilmittel ist und sie damit Traurigkeit wegbekommen oder Traurigkeit überhaupt ausdrücken können.



Interview: Irene Hummel



Live-Performance "Reise, Toter" auf dem Festival LesArt: 7.11. Dortmund, Theater im Depot

Piano-Konzert beim Jazzfest Berlin: 8.11. um 15 Uhr, UDK Konzertsaal


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