Gianna hebt ab

 
   
  Rockig, elektronisch und poetisch klingen die Songs auf Gianna Nanninis neuem Album "Aria". Die Italo-Butch mit der Reibeisenstimme sprüht auch noch mit 46 Jahren vor Energie, Eigenwilligkeit und kreativer Neugier. Katrin Jäger hat sich mit ihr unterhalten.

? Dein neues Album "Aria" handelt von großen Themen: Liebe, Fantasie und der Rebellion gegen Konventionen. Um mit dem ersten zu beginnen: Welche Gesichter der Liebe zeigst du?

Nannini: Das ist ganz unterschiedlich. Das Lied "Volo" erzählt zum Beispiel von der Liebe zu sich selbst, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Das sind keine typischen Liebeslieder. Sie erzählen von der Liebe als Aspekt von sozialen Beziehungen. Mal geht es um Brutalität, mal um Krisen, die eine Beziehung überschatten, mal darum, eine Person zu besitzen. Der hat nichts Pornografisches an sich. Die anderen Lieder haben nichts mit Liebe zu tun. Ich würde sagen, "Aria" (dt. Luft, Anm. der Redaktion) ist eine Vision von einem Weltgefühl, wie es das Element Luft vermittelt: Den festen Boden der Tatsachen verlassen.

? Hast du die Texte zu deinen Liedern selbst geschrieben?

Nannini: Nein, ich habe sie zusammen mit der Schriftstellerin Isabella Santacroce entwickelt. Sie ist mir aufgefallen, weil ihre Texte klingen. Ich habe Isabella auf Sizilien kennen gelernt, wo ich mit meiner Band für das neue Projekt arbeitete. Und ich fand, sie war genau richtig für uns. Erst wollte sie nicht mitmachen, weil sie noch nie Liedtexte geschrieben hat, aber ich habe sie überzeugt, weil ich sagte, dass sie schlau ist. Ich dachte, gemeinsam können wir die Sprache des Rocks verändern. Es war eine sehr intensive Zusammenarbeit. Wir haben viel miteinander geredet, über die Themen der neuen CD, wir haben unsere Gedanken auf Hochtouren gebracht. Und dann hat sie nicht einfach Texte zu meinen fertigen Kompositionen geschrieben. Sie hat improvisiert. In dem Moment, wo ich die Songs komponiert habe, hat sie am Mikrofon mit ihrem Mund Worte gebildet. Die Texte sind existentialistisch, sie beschreiben intensive Lebenszustände wie ich sie von mir her kenne. Sie kommen mir vor wie kleine Filme.

? Gegen welche Konventionen rebellieren die Texte?

Nannini: Rebellion ist nicht der richtige Ausdruck. Die Texte drücken persönliche Zustände poetisch aus. Der Rebell ist in einem selbst, nicht in den Texten.

? Du singst von Kriegerinnen, du singst von einer Göttin, die das Prinzip des männlichen Gottes ersetzt. Ist das nicht eine Art von Rebellion? Was möchtest du mit den Texten erreichen?

Nannini: Es ist ein metaphysisches Weltverstehen. Es geht nicht darum, die Welt retten zu wollen. Es geht nicht um Erklärungen oder Slogans. Die Poesie in den Texten hat damit nichts zu tun. Die Poesie hält sich außerhalb von solchen Klischees auf.

? Kritisierst du mit deinem Gotteskonzept die katholische Kirche?

Nannini: "Un Dio che Cade" ist ein Song über Anarchie. Es geht darum, sich selbst in der Welt zu verorten. Man fragt sich, wie man überleben kann. Das hat mit einer bestimmten Religion nichts zu tun. Ich bin ein Freigeist. Ich respektiere alle Religionen dieser Welt. Aber Religion ist natürlich auch ein Problem. Es sind so viele Kriege und andere Konflikte deswegen ausgetragen worden. In meinem neuen Album versuche ich, diese Dinge auszudrücken, aber selbst den Konflikt zu vermeiden. Deshalb finde ich solche Beschreibungen wie Aggressivität und Rebellion nicht angebracht. Wenn ich gegen etwas anschreie, dann bin ich selbst Teil des Systems, gegen das ich vorgehe, ich nehme darin einfach die Gegenposition ein.

? Bist du also nicht mehr so politisch wie in den 1990ern, wo du mit Greenpeace den Balkon der französischen Botschaft erklommen hast, um gegen Frankreichs Atomversuche im Muroroa Atoll zu demonstrieren?

Nannini: Wenn sowas wieder passiert, werde ich mich dazu äußern. Aber ich möchte nicht von irgendeiner Bewegung instrumentalisiert werden oder als Frontfrau für irgendetwas gelten. Ich möchte nicht, dass meine politischen Aktionen mit meiner Musik in einen direkten Zusammenhang gebracht werden. Wenn ich zum Friedensmarsch gehe, dann gehe ich dahin als die Privatperson Gianna Nannini.

? Geht es dir auch so mit der Frauenbewegung? Für viele Feministinnen bist du ein Vorbild. Wie findest du dich in der feministischen Bewegung wieder?

Nannini: Jeder hat ein unterschiedliches Konzept von Feminismus. Heutzutage ist Feminismus nur noch ein Wort. In den Universitäten gibt es viele Bücher darüber. Feminismus gehört der Vergangenheit an. Man kann sie aufarbeiten und historisch betrachten. Ich finde nicht, dass meine Musik feministisch ist. Ich werde immer noch mit der feministischen Bewegung identifiziert, ich weiß gar nicht warum. Denn ich hatte nur daran teil in der Zeit, als es wichtig war. Das war vor 25 Jahren. Ich sehe heutzutage keine feministische Bewegung mehr, jedenfalls in Italien. Heute haben sich die Probleme verschoben: Es gibt keine Toleranz gegenüber Immigranten und Minderheiten. Die Probleme, die Frauen haben, sind heute auch Problem von Männern. Deshalb ist es wichtiger, dass Frauen und Männer zusammen für Freiheit eintreten.

? Meinst du, es gibt gar keine typischen Frauenprobleme mehr?

Nannini: Das Problem liegt in dem Konzept, dass Frauen und Männer voneinander unterscheidet. Mein Lied "Volo" erzählt von einem neuen Weiblichkeitskonzept, wo Eitelkeit und Selbstdarstellung eine große Rolle spielen. Es geht also um positive ästhetische Aspekte. Viele Frauen aus der Frauenbewegung wollen nicht schön sein. Das finde ich schlecht. Ich finde es auch merkwürdig, dass es immer noch Diskriminierung gibt, obwohl wir seit über zwanzig Jahren über dieselben Fragen diskutieren. Viele dieser Probleme sind anhand dieser Fragen immer noch nicht gelöst. Die Fragestellung ist falsch.

? In dem Lied "Mio" vertauscht du die Geschlechterrollen: Die Frau besitzt den Mann.

Nannini: "Mio"? Da geht es um einen Blow Job.

? Hast du Probleme damit bekommen?

Nannini: Mit einem Blow Job? Nein (lacht).

? Ich meine, fanden Leute den Text anstößig?

Nannini: Er ist nicht pornografisch, eher wie ein Gemälde. Es interpretiert die Situation, in der du dich verlierst in erotischen Gefühlen. Wo du jemanden besitzt in einer sexuellen Beziehung.

? Spielt das Geschlecht für dich eine Rolle in einer sexuellen Beziehung?

Nannini: Ich bin gegen Geschlechterrollen. Man muss sich offen für alles halten.

? Wie reagiert die italienische Gesellschaft auf dich als offen bisexuelle Person?

Nannini: Die sind zu konservativ, um darüber zu reden. Es ist so, als wollten sie das nicht sehen und schließen ihre Fenster, blenden das einfach aus. Ich finde, jeder hat ein Sexproblem. Deshalb ist es immer noch ein Problem, bisexuell, gay, egal wie orientiert zu sein. Das Problem liegt darin, überhaupt eine sexuelle Identität zu haben. Daraus entstehen Vorurteile gegen Menschen mit einer anderen sexuellen Identität.

? Neben rockigen Sounds enthalten deine neuen Kompositionen elektronische Elemente. Deine Stimme verzerrst du mit einem Vocoder. Wie bist du darauf gekommen?

Nannini: . Wir haben zwei Jahre lang experimentiert, um diese Tonarchitektur hinzukriegen. Vor allem mein Bandleader Christian Lohr aus München hat dazu viel beigetragen. Er hat auch die Idee gehabt, meine Stimme mit einem Vocoder zu verzerren. Ich benutze meine Stimme zum ersten Mal wie ein Instrument. In dem neuen Album verbinde ich den Rock mit der elektronischen Welt. Ich benutze die Elektronik, um die Tonlagen zu verändern. Einerseits einfach um des Lautes Willen, aber auch, um eine Situation zu beschreiben, um die Visionen spürbar zu machen, umdie es geht. Die elektronischen Elemente lassen die Musik den visionären Texten entsprechen

? Die deutschen Radiostationen spielen am liebsten deine alten Lieder wie "Bello Impossibile". Deine neuen Stücke sind weniger bekannt. Frustriert dich das?

Nannini: Der Radioapparat ist so eine Art Monopol, der bestimmt, was gespielt wird. Er versucht nicht, eine Entwicklung einer Sängerin darzustellen. Vielleicht haben die Radiostationen Angst vor meinen neuen Sounds. Ich habe da keine Probleme mit, obwohl ich es natürlich besser finde, etwas von mir zu hören, was ich gerade neu herausgebracht habe. Aber "Bello Impossibile" ist ein großartiges, zeitloses Stück.

? In den Neunziger Jahre ist es um dich still geworden im Showgeschäft. Was hast du da gemacht außer politischen Aktionen?

Nannini: Wenn man so wie ich in der Musik lebt, dann kann man nicht immer auf der Bühne stehen. Man braucht Zeit zum Energie tanken, zum Nachdenken, für sich selbst. Sonst kann man nicht wieder kreativ werden. Deshalb bin ich verschwunden, aber hier bin ich wieder.

? Du hast auch deine Dissertation in Philosophie geschrieben mit dem Titel "der Körper in der Stimme". Was genau hast du darin untersucht?

Nannini: Ich habe mir angeguckt, wie körperliche Bewegung die Stimme beeinflusst. In einer Performance bewegt sich der Körper, schwingt in einem bestimmten Rhythmus. Ich habe also in fünf Kulturen untersucht, wie sich Tanzbewegungen auf die weibliche Stimme auswirken. Es war wie eine Reise durch das Land der Stimmen. Der Körper ist das letzte analoge Element in der Musik. Er ist keine Maschine, sondern die Bewegung und das Gefühl beeinflussen die Stimme direkt. In den USA sind die Stimmen fast gleich, monoton. Vielleicht liegt das daran, dass die amerikanische Gesellschaft keine Wurzeln hat. Woanders unterscheiden sich die Stimmen in der Tonlage und Intonation. Das Thema interessiert mich immer noch. Weil, der eigentliche Skandal an provozierenden Liedern ist nicht die Pornografie, sondern die Stimme. Die Stimme enthüllt dein Inneres, das, was du wirklich bist. Bei mir war der eigentliche Skandal immer die Stimme. Weil sie so frei ist und überhaupt nicht gedrückt. Ich kann unterschiedliche Sachen ausdrücken. Rockín Roll war meine Schule, aber ich kann Frequenzen singen, die andere nicht hinkriegen. Durch meine Untersuchung der Stimme in unterschiedlichen Kulturen bin ich mir der Bedeutung meiner eigenen Stimme noch bewusster geworden. Es ist wichtig, dass Stimmen unterschiedlich klingen, nicht genormt sind.

? Meinst du, dass Politikerstimmen einander ähneln?

Nannini: Politiker sollten anfangen, Gedichte zuschreiben oder zu malen. Wir brauchen mehr phantasievolle Visionen.

? Hat deine Dissertation deinen eigenen Musikstil beeinflusst?

Nannini: Nicht nur die. Ich lasse mich immer beeinflussen, von unterschiedlichen Seiten. Aber dann komme ich zurück zum Zentrum meiner Idee, zu meiner eigenen Melodie, zu meiner Ausdrucksweise. Mir bringt es viel, meine Lieder mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu spielen. Weil ich glaube, dass dabei eine Vielfalt entsteht, die eine Alternative zum normalen Musikmarkt bietet.

? Du gehst immer wieder auf die Straße, für Frieden, für Gerechtigkeit zwischen den Völkern. Wie stehst du du den Angriffsplänen den USA gegenüber dem Irak?

Die Weltphilosophie ist "teile und herrsche". Auf dieser Grundlage entstehen Gegner und Konflikte. Es ist gut, das nicht mitzumachen. Deutschland hat einen ersten Schritt getan, indem es sich gegen diesen Krieg ausgesprochen hat. Für die europäische Emanzipation und Unabhängigkeit gegenüber den USA ist das sehr wichtig. Aber die Idee reicht nicht. Es müssen Taten folgen. Stell dir vor, ein Europa ohne Armee, ohne Waffen. Wir müssen zeigen, dass wir so leben können. Ohne Angst zu haben, sich verteidigen zu müssen oder Vorbeugung gegen einen Angriff treffen zu müssen. Ich glaube nicht an das Prinzip Verteidigung. Auf den Friedensmärschen habe ich erlebt, dass Leute zusammenkommen und kein Konflikt entsteht. Konflikte sind erst da, wenn sie kreiert werden, nicht weil unterschiedliche Menschen zusammen kommen. Natürlich ist es jetzt schwierig zu protestieren, weil wir keine Kontrolle über die politischen Entscheidungen haben. Mit meiner Musik versuche ich auszudrücken, dass ich damit nicht einverstanden bin. Meine Aktion besteht im Moment darin, mich in das europäische Kulturleben einzumischen.

? Was hältst du von Berlusconi?

Nannini: Ich kenne ihn persönlich nicht. Aber ich glaube, er ist da, um kritisiert zu werden, nicht um irgendetwas Gutes zu tun. Er ist nicht wirklich der Landeschef. Er wird manipuliert und manipuliert andere Leute.

? Wenn du die Welt ändern könntest. Wie würde sie aussehen?

Nannini: Diese Welt würde bald aufören zu existieren. Wir brauchen eine neue Welt. Diese neue Welt würde ich im Geist meines Liedes "Immortale" gestalten. Wo die Liebe wirklich unsterblich ist.

? Bist du im Moment verliebt?

Nannini: Nein. Es ist zu schwierig. Das kann nur ein oder zwei Mal im Leben passieren. Weil es so intensiv ist. Ich flippe aus, wenn ich total verliebt bin.

? Was hast du als Nächstes vor?

Nannini: Ich mache keine Pläne. Immer Schritt für Schritt. Ich reise, recherchiere, und dann kommt irgendetwas. Ich bin eben eine Lautforscherin.

(Photos: public propaganda)
 
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