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Als
Anna Thomann ihren vierzigsten Geburtstag feierte, kamen sie und ihre Freundinnen
durch einen konkreten Fall im Bekanntenkreis auf das Thema Altersheim und waren erschrocken:
Ein Heimplatz kostet locker seine 3500 bis 6000 DM pro Monat, in der Regel werden
zusätzlich sogenannte Mieterdarlehen in Höhe von einigen zehntausend DM
verlangt ...
Die
Kosten werden je nach persönlicher Situation von der Pflegeversicherung in Kombination
mit entweder den eigenen Mitteln oder der Sozialhilfe bezahlt. Das oftmals mühsam
abbezahlte Eigenheim der meisten betreuungs- oder pflegebedürftigen Menschen
geht dabei als erstes drauf, weil weder die eigene Rente noch das eventuelle Einkommen
der Kinder ausreichen, diese hohen monatlichen Belastungen zu tragen. Übrig
bleibt meist nur ein kleines Taschengeld und ein "Rest"- Leben auf etwas
mehr als 20 qm in einem Altersheim, das häufig noch weniger Charme besitzt als
so manches Studentenwohnheim.
Auf dieser Geburtstagsfeier nun wurde den Anwesenden schnell klar, dass sie alle
dies so nicht wollten. In einer lebhaften Diskussion stellten sie spontan einen Katalog
mit den eigenen Wünschen zusammen; es entstand das Frauennetzwerk "Lia
- Leben im Alter", das von fünf Leitgedanken geprägt ist:
- Anerkennung und Wertschätzung von Frauen, insbesondere von alten Frauen in
der Gesellschaft
- Selbstbestimmung des Lebensstils und der Lebensform
- Mehr Alterseinkommen für Frauen
- Entwicklung von Eigeninitiative, Kreativität und Persönlichkeit
- ein Recht zum Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen auch als alte Frau.
Anna Thomann fand in Iris Lulei-Janzik und Brigitte Lorenz zwei kompetente Mitstreiterinnen.
Iris Lulei-Janzig leitete damals die Psychologische Abteilung einer neurologischen
Klinik, Brigitte Lorenz war Geschäftsführerin des Vereins "Bildung,
Beratung und Kommunikation für Frauen e.V.", der die gesellschaftliche,
soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Integration von Frauen förderte.
Bei ihren Recherchen entdeckten sie, dass nach Definition der Weltgesundheitsorganisation
WHO Frauen ab dem 40. Lebensjahr sozialmedizinisch als "alte" Frauen gelten.
Für Männer gibt es diese Definition nicht. Der Frauenanteil in Alten- und
Pflegeheimen steigt mit zunehmender Hochaltrigkeit auf 80 - 90 % an, weil Männer
zu einem überwiegenden Teil von Ehefrauen oder Lebensgefährtinnen zuhause
betreut werden.
Drei Jahre nach Anna Thomanns Geburtstagsfeier wurde der Verein "Lia - Leben
im Alter e.V." gegründet, der neue Formen des Lebens von Frauen im Alter
fördern und initiieren soll.
-Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO gelten Frauen ab dem 40.
Lebensjahr sozialmedizinisch als "alte" Frauen. Für Männer gibt
es diese Definition nicht.-
Im Luftkurort Nümbrecht, der im bergischen Land unweit von Köln gelegen
ist, entstand das Lia-Zentrum - oder Basislager, wie die Gründerinnen es gerne
in Anlehnung an die Bergsteigerei nennen. Noch arbeiten sie in gemieteten Räumen,
aber es bewegt sich schon recht viel: Es gibt bereits eine Praxisgemeinschaft für
Therapie, Beratung, Gesundheits- und Schönheitspflege für Frauen; das Angebot
reicht vom Gesundheitstraining für Frauen ("Wie kann ich wieder gesund
werden?") bis hin zur Managementberatung für Selbstständige, Angestellte
oder Familienfrauen. Das Lia-Zentrum bietet Frauen außerdem einen mobilen sozialen
Pflegedienst für häusliche Pflege, Begleitung und hauswirtschaftliche Hilfen
an.
Die Tagespflege für Frauen im Lia-Zentrum mit rehabilitierenden und therapeutischen
Angeboten wird mittlerweile sogar von Frauen aus entfernten Orten abgefragt.
-Kreativität,
Wohnen, Arbeiten, Gesundheit, Pflege und Rehabilitation spielen eine zentrale Rolle
im Nümbrechter Modell-
Zum Bau eines eigenen Wohn- und Pflegeprojektes, das den Namen "Nümbrechter
Modell" erhielt, brauchte es allerdings noch einige Jahre und vor allen Dingen
viel Durchhaltevermögen. Zunächst entstand die "Lia GmbH & Co
KG" als Trägerin des Modells.
"Wir haben uns erst einmal alles durchgerechnet und festgestellt, dass in dieser
ëBrancheí unglaublich hohe Gewinnspannen sind. Nur wollen wir ja gar nicht reich
werden, sondern ein solides Projekt auf die Beine stellen, in dem wir selbst hoffentlich
auch einmal leben werden", so Anna Thomann. Learning by doing: die drei Initiatorinnen
haben sich alles nötige Wissen selbst angeeignet, sie wissen, wie man baut,
die Kauf- oder Mietpreise berechnet, können wirtschaftliche Voraussichten erstellen
und bezeichnen sich mittlerweile selbst scherzhaft als gelernte Betriebswirtinnen.
Geschätztes Finanzvolumen bis jetzt: 40 Millionen DM.
Und sie haben die inhaltlichen Ziele klar festgelegt: Einer gründlichen Analyse
der bestehenden Rahmenbedingungen für weibliches Leben im Alter folgten die
Entwürfe; Kreativität, Wohnen, Arbeiten, Gesundheit, Pflege und Rehabilitation
spielen eine zentrale Rolle im Nümbrechter Modell. Frauen, die pflegebedürftig
sind, sollen von Frauen gepflegt werden statt von z. B. männlichen Zivildienstleistenden,
die oftmals keine Lust haben. Frauen, die allein leben oder mit ihrem Partner oder
ihrer Partnerin unabhängig von der traditionellen Familie leben wollen, sollen
hier wohnen und arbeiten können. Auch an Familien mit pflegebedürftigen
Kindern wird im Nümbrechter Modell gedacht. Hierzu existieren verschiedene Optionen:
Es gibt Mietwohnungen, aber auch die Möglichkeit, eine Wohnung zu kaufen. Die
kann z. T. sogar ausgebaut werden für eine Großfamilie. Alle Wohnungen
haben einen eigenen Eingang und entweder Balkon oder Terasse. Wer kein Auto hat,
aber ab und an mal eins nutzen will, kann das Lia-Car-Sharing-System in Anspruch
nehmen; die sogenannten Lia-Flitzer stehen dafür bereit. Ebenso verhält
es sich mit so alltäglichen Dingen wie Wäschewaschen oder Geschirrspülen:
Jeder kann die Waschmaschinen (die übrigens nicht im Keller, sondern in einem
hellen Raum mit Blick zum Garten stehen) oder den Haushaltshilfeservice in Anspruch
nehmen, keiner muss. Alle sollen sich nach ihrer Facon wohlfühlen, keine Frau
ist zur sozialen Kontaktaufnahme verpflichtet - sie kann sich zum Schwimmen im Lia-eigenen
Bad (im Grundpreis inbegriffen) verabreden oder allein ihre Runden drehen.
Und: keine Frau muss diesen Ort verlassen, wenn sie pflegebedürftig ist. Denn
auch hier bietet das Modell eine eigene Alternative vor Ort. Integriert ist zudem
ein bundesweit einmaliges Modell zur Übergangspflege. "Bislang gab es nur
zwei Optionen: entweder ein Mensch bekommt Pflege, oder er kommt in eine Reha-Klinik.
Dazwischen gab es bislang nichts. Niemand versucht, die Ressourcen, die ein Mensch
noch hat, weiterauszuprägen. Das passiert aber bei unserer Übergangspflege",
so Anna Thomann. "Nach einem Herzinfarkt mögen gewisse Dinge zwar nicht
mehr so gehen wie bisher, aber, wenn wir uns auf unsere Ressourcen besinnen, können
wir noch eine Menge tun. Lia ist also überhaupt nicht defizit-orientiert, was
ich für sehr wichtig halte."
Die gesamte Anlage orientiert sich zudem an ökologischen Vorgaben: Statt des
englischen Rasens um das Gelände gibt es einen Naturpark mit eigenem Bachlauf
und Teich, die Gebäude sind aus recycletem Beton oder Natursteinen, alle Wohnungsböden
sind aus Holz, Dämmstoffe aus Naturmaterialien, undsoweiter.
-Geschätztes Finanzvolumen: 40 Millionen DM.-
Die Finanzierung
blieb allerdings die schwierigste Hürde: Mögliche Kostenträger und
Fördermittelverteiler verhielten sich in der Regel abweisend. Aber die Frauen
gaben nicht auf: im stetigen Dia-log machten sie den Verantwortlichen klar, dass
das Nümbrechter Modell keine spinnerte Idee, sondern ein durchaus sinnvolles
Projekt sei. So bemerkte der Fachmann eines großen Wohlfahrtverbandes: "Das,
was Sie da machen, ist völliger Unsinn. Bei uns sind ca. 70 % der betreuten
Frauen in der Tagespflege, davon sind 65 % dement. Die merken gar nicht, ob sie von
einem Mann oder einer Frau gepflegt werden. Also, warum wollen Sie sie nur von weiblichem
Fachpersonal pflegen lassen?" Woraufhin ihm Anna Thomann entgegnete: "Nun
gehen sie noch einen Millimeter weiter und wir reden über Euthanasie - denn
die merken das ja nicht..." Und Iris Lulei-Janzik ergänzte: "Jeder
demente Mensch - egal ob weiblich oder männlich - hat sein Fenster zur Welt
bei sich. Das mag zwar oftmals zu sein, aber manchmal geht es auf. Wenn eine Frau
in so einem Moment von einem Mann gewaschen wird, dann fühlt sie sich einfach
nicht wohl, das ist doch wohl klar. Wir wollen garantieren, dass sie sich immer wohlfühlt."
- Der Fachmann verließ etwas betreten und nachdenklich die Gesprächsrunde.
Die Frauen schafften es trotz dieser zähen Gesprächslage, das Geld für
den Grundstückskauf in Nümbrecht aufzutreiben: für 2,8 Millionen DM
gingen 25.000 qm Fläche an die zumBauprojekt gegründete Lia GmbH &
Co KG.
Inzwischen gibt es auch zahlreiche Käuferinnen von Wohnungs-Einheiten - ohne
dass großartig Werbung betrieben wurde. Der Bedarf ist offensichtlich da. Die
versprochene Rendite für Anlagen in das Projekt ist auch nicht schlecht - egal
ob frau darin wohnen will oder nicht: Eine Einlage von 50.000 DM bringt zunächst
5 %, nach der Anlaufphase wahrscheinlich 7 %. Von 40 Millionen DM müssen 4 Millionen
DM als Eigeneinlage erbracht werden. Noch ist das Ziel nicht ganz erreicht, aber
die Gründerinnen sind zuversichtlich, schließlich fehlen nur noch ein
paar tausend Mark.
Der Großteil des Kreditvolumens wird gedeckt durch Bundes- und Landesmittelfördermaßnahmen,
die in langwierigen Antragsverfahren beantragt und bewilligt wurden.
Schirmherrin von Lia ist übrigens Hildegard Knef. "Wir haben lange überlegt,
wer uns entsprechend vertreten könnte und kamen zu dem Schluss: Es ist nicht
Hildegard von Bingen, es ist nicht Hillary Clinton, es ist auch nicht Renate Schmidt.
Es muss eine Frau sein, die unseren kreativen Ansatz widerspiegelt. Als frühemanzipierte
Frau, die allerdings auch um die finanziellen Höhen und besonders Tiefen des
Lebens Bescheid weiss, ist Hilde Knef für uns genau die Frau - und sie fand
Lia eben auch spannend. Sie polarisiert auch, und das ist gut so, denn: wo Polarisation
ist, ist auch Leben."
Und Lia will eben leben.
In der direkten Nachbarschaft ist kürzlich ein Altersheim gebaut worden. Es
heißt "Engelsstift" und liegt direkt gegenüber vom Friedhof.
Beste Chancen also für Lia...
Ulrike Anhamm
Kontakt:
Lia, Wiesenstr. 16, 51580 Nümbrecht,
Tel.: 02293-902350,
www.lia.de, e-mail: info@lia-online.de
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