MARY GAUTHIER - Geschichten vom Rand der Gesellschaft

 
   
  Die Helden ihrer Songs sind die Verlierer am Rande der Gesellschaft. Mary Gauthier hat sie nicht nur genau beobachtet und porträtiert, sondern selbst viele Jahre mit ihnen auf der Schattenseite verbracht - sie flüchtete früh aus dem Elternhaus, war im Gefängnis und lebte auf der Straße oder in billigen Absteigen. Später griff sie dann zur Feder, setzte ihre Erfahrungen in Songtexte um und begann, als Folk-Sängerin aufzutreten. Mit ihrer dunklen Stimme erzählt sie intensive Geschichten, mit Gitarren- und manchmal mit Mundharmonikabegleitung. Erst mit 34 Jahren veröffentlichte Mary Gauthier ihr Debütalbum "Drag Queens in Limousines”. Liebevoll beschreibt sie die Einsamen und die Outlaws, wie die Stripteasetänzerin, in die sie sich verliebte. Alkohol, andere Süchte und die Folgen sind immer wieder Thema. In "Karla Faye” setzt sie sich kritisch mit der Todesstrafe auseinander. Ihre Songs sind bittersüße ehrliche Geschichten, die das Leben schrieb.

"Filth and Fire”, so der Titel des zweiten Albums, steht für das reinigende Feuer und den Dreck, den sie abzustreifen hofft. Nicht nur ihre Vergangenheit war davon geprägt, auch ihre Gegenwart als Musikerin ist es. Im Gespräch beklagte sie schäbige Unterkünfte und die schmutzigen Backstage-Räume, die unbekannteren MusikerInnen zugemutet werden. Begeistert erzählte Mary Gauthier dann aber von den vielen schönen Seiten ihres Traumjobs, von ihrem Publikum und von ihren Erfahrungen als Lesbe auf Folkfestivals und im Country-Business.



Wie spricht man Gauthier aus und woher stammt dieser Name bzw. deine Familie?
"Go-Shay”, das ist ein Cajun-Name, aus Süd-Louisiana. Meine Familie ist Cajun, wir stammen aus New Orleans. Cajun beruht auf einer Abwandlung des Französischen.

Wie war deine Kindheit in Louisiana?
Ich erinnere mich nicht und kann nicht viel erzählen. Es war ein ganz normales Familienleben in einem Haus in Louisiana, da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen.

Du hast früh dein Elternhaus verlassen. Warum?
Ich ging. Weil es Zeit war zu gehen. Mit fünfzehn.

Wann und wie hast du herausgefunden, dass du lesbisch bist?
Ich war schon immer lesbisch. Wie alt bist du, wenn deine Sexualität erwacht - zwölf, dreizehn? Ich war lesbisch, und ich brauchte kein Coming-Out, da ich mich nie versteckt hatte.

Also hast du dich einfach in ein Mädchen verliebt?
Ja.

Deine Geschichte ist anscheinend nicht so das, worüber du gerne reden willst?
Mmmh, es ist langweilig. Ich finde es wirklich uninteressant.

Okay - wie bist du denn zur Musik gekommen?
Ich war auf dem College, studierte Philosophie. Dann verließ ich Louisiana und ging nach Boston. Dort besuchte ich eine Schule für "Kulinarische Künste” und landete schließlich im Restaurantgeschäft. Irgendwann fing ich dann an, Songs zu schreiben, und vor drei Jahren beschloss ich, Vollzeitmusikerin zu werden. Genau das bin ich heute. Ich sehe mich in erster Linie als Songwriterin, weniger als Sängerin und Gitarristin. Ich benutze meine Songs so wie Schriftsteller ihre Romane oder Kurzgeschichten benutzen: um Geschichten zu erzählen und zu versuchen, etwas Besonderes zu machen.

Warum hast du dich dafür entschieden, selbst aufzutreten? Als Songwriterin könntest du doch auch Songs für andere schreiben?
Das wäre wunderbar, aber ich weiß noch nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Das wird wohl noch einige Jahre dauern.

Also bist du selbst aufgetreten. Hat es von Anfang an Spaß gemacht?
Nein, es war schrecklich (sie lacht). Es war echt furchtbar am Anfang! Man muss lernen, wie man auf der Bühne zu sein hat. Ich habe erst mit 34 damit angefangen, ich war also alt für eine Anfängerin. Es war absolut beängstigend! Man muss so viel lernen, um mit Erfolg aufzutreten. Man macht viele Fehler - und als Performer machst du die alle vor dem Publikum! Das erste Jahr war echt entsetzlich. Aber es wurde immer besser, ich lernte dauernd dazu. Und ich lerne immer noch. Ich sage nicht, dass ich nun alles draufhabe, es gibt immer noch etwas zu lernen.

Wie bist du durch dieses erste Jahr gekommen? Ich glaube, ich hätte sofort aufgehört, wenn es wirklich so schrecklich war!
Ja, einige Leute würden es dann lassen, aber ich war einfach fest entschlossen. Ich glaube, es war meine Bestimmung, mein Schicksal. Und die Freude, die Begeisterung, die ich empfinde, ist mit überhaupt nichts zu vergleichen, was ich jemals zuvor gefühlt habe. Ich weiß, dass es für mich genau das Richtige ist. Es ist wie Verliebtsein. Ich bin verliebt in diesen Job, er ist wunderbar. Das hier ist das, was ich mit meinem Leben anfangen werde. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, es gut zu machen, und das braucht eben Zeit.
Vorher konnte ich mir das auch nicht vorstellen: oh Gott, auf der Bühne zu stehen vor diesen ganzen Leuten - den Gedanken fand ich total verrückt und absolut erschreckend. Aber wenn du einmal damit anfängst, dann wird es dein Leben, und ist überhaupt nicht mehr beängstigend. Tatsächlich finde ich es schlimmer, in einem Raum mit lauter Fremden Konversation zu versuchen, als vor Tausenden von Leuten aufzutreten.

Was war denn eigentlich der Auslöser für deine Musikkarriere? Du hast ein Restaurant in Boston gehabt.
Ja, zehn Jahre lang, und es lief sehr erfolgreich. Dann habe ich es verkauft. Es war einfach nicht das, was ich für den Rest meines Lebens weitermachen wollte. Folgendes passierte: ich hatte aufgehört zu trinken. Das war vor zwölf Jahren. Nachdem ich etwa fünf Jahre trocken war, begann ich zu schreiben. Mein Geist wurde immer klarer. Ich habe ein wirklich schlimmes Alkoholproblem gehabt. Erst als ich das überwunden hatte, konnte ich schreiben. Und das hat mich dann schließlich ganz gefangengenommen. Alles was ich wollte, war schreiben und auftreten. Unter Alkohol ging das nicht. Manche Künstler können Alkohol, Drogen und Kunst vermischen. Ich nicht. Ich kann nicht schreiben, wenn ich keinen klaren Kopf habe.

Das ist ein alter Mythos, dass Drogen und Musik zusammengehören.
Mag ja auch stimmen für manche Musiker, vielleicht brauchen sie das Unglück. Ich bin nicht so - ich bin glücklich zu leben. Ich glaube, die Tragik wird in den Künsten überbewertet. Mir geht es um Leben, Liebe und Wärme, und ich möchte dafür arbeiten, dass die Welt - wenigstens ein bisschen - ein besserer Ort wird. Selbstverursachtes Unglück finde ich überhaupt nicht cool, sondern wirklich tragisch.

Wie kam es, dass der Alkohol für dich zu einem echten Problem wurde? Hast du früh angefangen?
Ja, da war ich etwa zwölf. Aufgehört habe ich mit 28.

Wie hast du aufgehört? Mit einem Entzug in einer Klinik?
Nein, ich wurde eingesperrt, wegen Alkohol am Steuer, und das war´s dann. Nie wieder, das war´s einfach. 12. Juli 1990. Ich habe nie mehr einen Tropfen angerührt. Aber es ist nicht so, dass ich nie mehr darüber nachdenke. Ich gehe zu meinen 12-Schritte-Treffen, ich habe einen drogenfreien Freundeskreis. Ich habe mein Leben um die Befreiung von der Abhängigkeit herum aufgebaut. Mich jetzt zu betrinken, würde alles ruinieren, was ich erreicht habe. Mein Leben ist zu gut dafür. Ich habe viel zu viel zu verlieren

Welchen Ratschlag würdest du Frauen mit Alkoholproblem geben? Einfach aufhören, so leicht geht es ja wohl nicht?
Nein, es ist nicht einfach: man braucht Hilfe. Ich kann keine Ratschläge geben, aber das weiß ich: wer Hilfe will, der findet sie. Man muss sich die Hilfe selbst suchen. Und das ist wirklich das schwerste daran. Die Leute fragen nicht nach Hilfe, bevor es ihnen nicht ganz dreckig geht. Also ist das Leid am Ende das, was dich motiviert. Nicht irgendein Rockstar, der einem Tipps gibt! (Sie lacht)
Du musst echt leiden. Und wenn du lang genug gelitten hast, stirbst du entweder oder du bemühst dich um Hilfe. Leider sterben die meisten Leute... Alkohol ist ein Killer. Aber man kann die Leute nicht zwingen, sich Hilfe zu suchen, oder ihnen die Hilfe aufdrängen. Sie müssen den Moment finden, an dem sie bereit sind. Diesen Moment kannst du noch nicht mal für dich selbst erzwingen. Es passiert oder es passiert nicht. Das ist ziemlich rätselhaft. Wenn du 100 Ex-Alkoholiker fragst, werden sie dir 100 verschiedene Gründe und Anlässe sagen. Aber am Ende heißt es immer wieder: keine Ahnung.

Das hörte sich gerade so einfach an: "Ich wurde eingesperrt und das war´s”?
Es ist überhaupt nicht einfach. Es war das Härteste, was ich in meinem Leben getan habe. Jetzt, nach zwölf Jahren, ist es einfach. Die ersten Jahre waren echt hart. Du musst dein Leben ändern, andere Freunde suchen, die Situationen vermeiden, in denen andere sich betrinken. Du musst etwas finden, womit du deine Zeit verbringst. Vorher war ich entweder arbeiten, oder ich betrank mich. Plötzlich hatte ich einen Haufen Zeit, mit der ich nichts anfangen konnte. Auf eine Art muss man sich selbst komplett neu erfinden, und das kann sehr qualvoll sein. Auf jeden Fall ist es sehr, sehr schwierig. Kein bisschen einfach - aber es ist es auf jeden Fall wert!

Auf "Drag Queens in Limousines” ist dazu das trostlose Lied "I drink”.
Der Charakter in dem Song "I drink”, das wäre ich, wenn ich nicht aufgehört hätte zu trinken. Ein trauriger einsamer Mensch, der die Schuld an all seinen Problemen den anderen und seinen Eltern gibt, anstatt selbst die Verantwortung zu übernehmen.

Ein Lied beschäftigt sich mit Heroin, ist das auch autobiographisch?
Das ist über den Sohn eines Songwriter-Kollegen, der süchtig war und am Heroin starb. Sucht ist Sucht, aber dieser Song ist nicht über mich.

Inspiration und die Charaktere für deine Songs findest du um dich herum?
Ja, sie sind überall. Sie sind mit mir im Tourbus unterwegs! Überall auf der Welt warten die Geschichten der Menschen darauf, erzählt zu werden. Man muss nur aufmerksam durchs Leben gehen, offen sein und danach suchen. Ich schreibe über das, was ich sehe, weniger über meine Gefühle.

Zeigt dein zweites Album "Filth & Fire" mehr die glücklichen Seiten des Lebens?
Nein. Es ist nicht traurig, aber es ist hart. Das Leben ist hart. Es gibt schöne, süße Momente, aber auch harte. Aber es ist ein bisschen mehr Hoffnung auf dieser Platte als auf der vorigen. Die Charaktere haben sich nicht so sehr verändert, aber sie sind ein bisschen gewachsen in ihrem Kampf mit den Schwierigkeiten. Ich möchte einfach echt sein - nicht total depressiv, aber auch nicht euphorisch glücklich. Es geht mir um das Echte, das Wahre. Es gibt immer beide Seiten: Freude und Trauer, Erfolg genauso wie Enttäuschung. Ich beschreibe das wirkliche Leben. Wenn ich mich mal wie verrückt verlieben würde und regelrecht ekstatisch wäre, würde ich sicher auch darüber Songs schreiben, aber das ist bislang einfach nicht passiert.

Keine Beziehung, keine Partnerin?
Nein. Im Moment möchte ich mich auch auf niemanden einlassen, da mein Leben vor allem aus meiner Arbeit besteht. Ich bin nie zuhause, sondern dauernd in der ganzen Welt unterwegs. Niemand will so eine Beziehung. Das ist, glaube ich, auch die größte Herausforderung in diesem Business: eine Beziehung zu bewahren.

Hast du Kinder?
Nein, Gott sei Dank!

Wieso Gott sei Dank?
Ich wäre eine furchtbare Mutter. Alles was ich will, ist Songs schreiben, auftreten und reisen. Das kann man doch keinem anderen menschlichen Wesen zumuten!

Was vermisst du hier auf Tour am meisten?
Ich vermisse mein Handy, das hier nicht funktioniert. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie ich an ein europäisches komme. Also kann ich nicht in Kontakt bleiben mit den Leuten, mit denen ich gerne reden würde. Eine Annehmlichkeit, die ich sehr vermisse. Naja, und in Amerika kenne ich mich mehr aus. Ich weiß, welche Hotels gut sind und welche schrecklich. Von außen kann man das oft gar nicht beurteilen. Hier sind die meisten Hotels nicht von irgendeiner Kette, da kann man sich noch nicht mal am Namen orientieren. Aber ich bin schon zufrieden, wenn es Kaffee, saubere Duschen und ein schönes Bett gibt. Ich vermisse meine Freunde, aber ich habe hier auch schon viele nette Leute kennengelernt.

Diese Zeile hat mir sehr gut gefallen: "Sometimes you got to do what you gotta do / and hope that the people you love / will catch up with you." Bezieht sich das auf deine Familie, und haben sie dich wieder "eingeholt”?
Ja, das haben sie. Ich glaube, das ist wahrscheinlich eine der besten Zeilen, die ich je schrieb. Und ich habe sie nicht geschrieben - ich hielt nur den Stift, die Worte tauchten einfach auf. Es geht ums Erwachsenwerden, um Selbstfindung. Wenn die Menschen, die dich lieben, von dir verlangen, jemand anders zu sein, musst du gehen, sonst wirst du dich selbst verlieren. Besonders für Lesben und Schwule ist das ganz wichtig. Dann kannst du nur noch hoffen und beten, dass deine Familie dich wieder einholt. Meine Mutter hat zwanzig Jahre gebraucht, aber jetzt steht sie wieder an meiner Seite. Sie hat es geschafft.
Meistens brauchen wir ja selbst viele Jahre, um unsere Sexualität zu akzeptieren, Jahre voller Selbsthass. Wenn sich niemand verstecken würde, wäre es natürlich für alle leichter. Aber in Amerika ist der Druck sehr groß - Leute verlieren ihren Job, ihre Wohnung, ihre Kinder werden weggenommen. Wir habe einfach noch keine Rechte. Und unter dieser Regierung werden wir auch keine bekommen. So verstecken sich eben viele. Auch in Nashville gibt es homosexuelle Countrysänger, aber niemand würde sich dazu bekennen. Wie ist der Durchschnitt - jeder zehnte ist homosexuell? Genau so ist es auch im Country-Business.

Wie ist es für dich als Lesbe in diesem uramerikanischen Feld, im Country-Business?
Ich bin nicht im Country-, sondern im Folkgeschäft. Dort macht es niemandem etwas aus, so lange die Songs gut sind. Was du bist, ist ihnen egal. Im Country-Business könnte ich nie so sein. Schwule oder Lesben sind im Country undenkbar. k.d. lang machte eine einzige Countryplatte, nur eine. Dafür gibt es einen Grund: in Nashville stehen sie da nicht so drauf. Ich lebe selbst in Nashville, aber ich weiß auch, wo ich erwünscht bin und wo nicht.

Bist du in Europa oder in Amerika erfolgreicher?
Mehr Platten verkaufe ich in Europa, die meisten in Holland. Dort sitzt meine Plattenfirma Munich Records. Im Folk-Business verkauft man keine Millionen von Platten, sondern vielleicht 10.000 oder 20.000.

Mehrere Plattenfirmen waren an dir interessiert, jetzt hast du dich wieder für Munich Records entschieden. Warum?
Sie sind gut. Ich glaube, für Europa ist es genau das Richtige, bei einem europäischen Label zu sein. Sie kennen sich hier aus, sie haben gute Arbeit beim letzten Album geleistet, und ich vertraue ihnen.

Weiß dein Publikum, dass du eine Lesbe bist? Ist es den Leuten egal?
Sie wissen es. Wie sollten sie es nicht wissen - schau mich an! Ich sehe aus wie eine (sie lacht). Ich nehme einfach an, dass sie es wissen. Wenn sie Zeitung lesen, wissen sie es. Ich bin nicht zuallererst eine Lesbe. Das ist nicht mein Thema. Ich schreibe nicht über Lesben, sondern über Menschen, alle Sorten von Menschen, und über ganz verschiedene Situationen. Ich will nicht unbedingt eine lesbische politische Aktivistin sein. Ich bin einfach out. Ich tue, was ich tun muss und schreibe über das, was ich sehe. Ich denke, das ist schon eine machtvolle Sache: du selbst sein und offen damit sein, was du bist. Das ist der beste Weg, die Welt zu verändern: alle um dich herum eine Lesbe kennenlernen zu lassen. Aber für mich steht das nicht im Mittelpunkt. Es sollte viel interessanter sein, dass ich aus dem Süden stamme. Oder dass mein Publikum aus Motorradfahrern und Cowboys besteht. Mittelalte männliche Hippies, Langhaarige, Leute, die für Ralph Nader gestimmt haben. Nette Jungs, einsame Jungs. Musikfans. Leute, die auf die Worte achten. Leute, die Musik ernstnehmen und deren Schallplattensammlung so langsam die ganze Wohnung einnimmt. Die wenigsten davon sind gay, aber sie verbinden etwas mit den Liedern, die ich singe. Ich habe auch lesbisches Publikum, aber das ist nur ein kleiner Teil. Was ist denn überhaupt ein lesbisches Lied? Das Leben ist zu vielfältig, um es darauf zu reduzieren. Aber es wäre eine Sünde, mich zu verstecken. Das würde ja so wirken, als ob ich mich schäme! Das tue ich sicher nicht. Es hat mich aber viele Jahre gekostet, dahin zu kommen.

Also hast du gar nicht überwiegend Frauen in deinem Publikum?
Oh, Frauen stehen nicht auf Countrymusik.

Ach so? Ich dachte, du machst Folkmusik?
Ja, ich mache Folkmusik, aber ich bin aus dem Süden: es klingt nach Country! Country ist ja ein seltsamer Begriff geworden, man kann ihn eigentlich nicht mehr benutzen, weil er seine Bedeutung verloren hat. Frauen mögen oft diesen Countrysound nicht, den ich draufhabe. Zumindest die Mehrheit der Frauen nicht, die Ani DiFranco- und die Indigo Girls-Fans.

Hast du schon mal nur für Frauen gespielt?
Sie wollten mich nicht! Beim Michigan Women´s Music Festival sagten sie mir auch: Frauen stehen nicht auf Country. Na gut, ich habe jetzt aufgehört, mich da zu bewerben. Aber ich war beim Newport Folkfestival! Ein großes, ein wirklich riesiges Festival in Rhode Island. Ein fantastisches Festival! Und ich war beim Telluride Bluegrass Festival in Telluride, Colorado, das ist das größte Bluegrass Festival in Amerika. Dort spielte ich vor 12.000 Leuten. Ich bin mehr bei den Mainstream-Folkkonzerten als bei den lesbisch-schwulen Veranstaltungen. Nicht weil ich nicht wollte - ich würde wirklich gerne! Aber sie buchen mich nicht. Na gut. Ich denke, ich bin auch mehr von Nutzen vor dem Cowboy-Publikum. Bei einem Lesbenfestival bin ich nur eine weitere Lesbe, aber vor den Cowboys bin ich eine Lesbe, die mit ihrer Musik in ihr Herz vordringt. Auf die Weise kann Diskriminierung auch abgebaut werden. Wahrscheinlich werde ich überhaupt nur deshalb von den Lesben nicht gebucht, weil ich da nicht hingehöre, sondern vor das Mainstream-Publikum. Die Arbeit ist wichtig, und das ist eine echte Ehre für mich.

Was denkst du über Religion und Spiritualität?
Um trocken zu bleiben, musste ich mich Spirituellem öffnen. Alkoholismus ist letzten Endes eine seelische Krankheit. Es beginnt mit einer kranken Seele, dann werden auch Körper und Geist krank. Ich glaube, dass es bestimmte Arten zu leben gibt, die es dir in dieser Welt und in deiner Haut leichter machen. Aber Religion ist etwas Kompliziertes, ganz besonders in Amerika. Im Grunde versuche ich, sie zu ignorieren. Über Deutschland weiß ich nicht genug, um zu wissen, wie Religion hier funktioniert.

Also hast du deinen eigenen spirituellen Weg gefunden?
Naja, nicht wirklich meinen. Das ist über die Jahre entwickelt worden und basiert auf Selbstüberprüfung, Rückschau und Aufmerksamkeit in Beziehungen zu anderen. Ganz einfach und beinahe christlich. Aber ich würde mich niemals als Christin bezeichnen, wegen der Bedeutung, die darin steckt. Es geht um Liebe, Güte, Mitleid und darum, den Zorn im Zaum zu halten und niemals Leute anzugreifen. Geduld und Großzügigkeit ist auch Spiritualität. Nicht dieses Meditationsding, sondern eher das alltägliche Leben, die Art, wie du andere Menschen behandelst - egal wie sie dich behandeln.

Das neue Album hat auch ein paar Anklänge in die Richtung. Nimmt die spirituelle Suche jetzt mehr Platz in deinem Leben ein?
Das wird ganz natürlicherweise so, wenn man älter wird. Man denkt mehr über das große Ganze nach.

Wie alt bist du denn jetzt?
40. Nicht schlecht, oder? Ich finde es gut!

Hast du eine Form von spiritueller Praxis?
Für mich ist Songwriting eine Form von Meditation, eine Art Trance.

Auf dem neuen Album singst du ein Lied über "Sugarcane” - eine schöne Kindheitserinnerung oder eine Kritik an der Zuckerindustrie?

Auch eine Erinnerung, vor allem aber ein Song über die Zuckerrohr-Industrie. Ich habe ihn mit Catie Curtis zusammen geschrieben.

Sie kann ja nicht diese Erinnerungen an deine Heimat haben?
Nein, aber sie weiß, wie man Songs schreibt! Sie half mir, das ganze zusammenzusetzen. Ich beschreibe den Zuckerrohranbau. Ich sage ihnen nicht, sie sollten es lassen. Sie machen sowieso, was sie machen. Okay, ich kritisiere es natürlich doch. Sie verbrennen die Zuckerfelder, und der Rauch ist hochgiftig. Meine Großmutter starb an Lungenkrebs. Also habe ich das Recht, darüber zu reden.

Wird das heute noch genauso gemacht?
Ja, immer noch. Es dreht sich alles nur ums Geld, wie überall. Die Gesundheitsgefährdung ist ihnen egal.

Bist du politisch engagiert?
Nein, ich lese Zeitung und verfolge die Politik. Aber eine politische Aktivistin bin ich nicht. Doch meine Arbeit finde ich hochpolitisch, eine offen lebende Lesbe als öffentliche Person.

Du hast gesagt, du liebst deine Arbeit. Was magst du daran besonders?
Keine zwei Tage sind gleich. Es ist nicht wie so ein üblicher Job, tagaus tagein das Gleiche. Hier weißt du nie, was morgen passieren wird. Aber es kann auch entsetzlich langweilig sein.

Hast du Angst vor irgend etwas in diesem Geschäft?
Angst? Nein, es ist mein Job auf der Bühne zu stehen, davor habe ich keine Angst. Aber ich fürchte mich vor schlechten Hotels und eklig dreckigen Tassen. Damit kann ich überhaupt nicht umgehen. Es gibt so viele Backstage-Räume, die einfach widerlich sind, alles voller Müll, Dreck und mit klebrigem Fußboden, igitt!

Wenn ich deine Texte lese, denke ich eher, du bist daran gewöhnt...
Ja, aber es wäre so nett, das alles hinter sich zu lassen! Ich bin echt durch damit (sie lacht). Vor den Shows hätte ich einfach gerne einen netten sauberen Raum zum Relaxen. Aber das wird schon noch kommen, und ich werde immer daran denken, wie es am Anfang war, und die Verbesserungen zu schätzen wissen.

Also bezieht sich der Titel "Filth & Fire” auch auf diese Erfahrungen?
Vielleicht, ich bin gar nicht so sicher, was es bedeutet. Es steht für Erlösung, Heilung und für das Ende von etwas und den Beginn von etwas anderem. Für Veränderungen.

Interview: Irene Hummel
Photos: Señor McGuire


www.marygauthier.com (mit ausführlichem Tourtagebuch)


"Drag Queens in Limousines" (Munich Records / Indigo)
"Filth & Fire" (Munich Records / Indigo)



MARY GAUTHIER auf Tour:
19.9. Berlin, Magnet
21.9. Tuttlingen, Rittergarten
22.9. Frankfurt, Dreikönigskeller
24.9. Halle, Objekt 5
25.9. München, Substanz
26.9. A-Wien, B 72
 
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