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Ein strenger Kurzhaarschnitt,
dunkle Kostüme und Männerkrawatten - zeit ihres Lebens trat die am 30.
September 1897 geborene Ärztin und Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff offen
lesbisch und selbstbewußt auf. Doch erst nach ihrem 72. Lebensjahr veröffentlichte
sie die fünf Bücher, die sie zu einer wichtigen Figur der modernen Lesbenbewegung
werden ließen, darunter "Die Psychologie der lesbischen Liebe" (orig.:
Love between Women, 1971) und ihre Autobiographie "Augenblicke verändern
uns mehr als die Zeit" (Hindsight, 1980).
Die in Westpreußen
geborene Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die sich schon früh
ihrer Vorliebe für das eigene Geschlecht bewusst war, hatte zunächst in
Freiburg Medizin, Philosophie und Psychologie studiert. Nach ihrer Promotion in Berlin
- wo sie allerdings kaum an der blühenden lesbischen Kultur partizipierte -
arbeitete sie in der Geburtshilfe des Städtischen Rudolf-Virchow-Krankenhaus.
Dort lernte sie das Leid und die Sorgen der Frauen insbesondere aus den ärmeren
Schichten kennen, denn die großen Krankenhäuser boten den Frauen Beratungsmöglichkeiten
für familiäre Probleme oder auch Hilfestellung in Erziehungs- und Ernährungsfragen
an. In der Klinik für Familienplanungs- und Schwangerschaftsfürsorge und
Schwangerschaftsverhütung der Allgemeinen Krankenkasse Berlins, die ebenfalls
im Bereich der Sozialfürsorge agierte, wurde Charlotte Wolff nach kurzer Zeit
stellvertretende Direktorin. "Nie habe ich mich zufriedener und sicherer gefühlt
als während der fünf Jahre als Ärztin bei den Krankenkassen Berlins",
sagte sie im Rückblick.
Als Jüdin war sie jedoch in dieser Position nicht dauerhaft tragbar. Und auch
im Privatleben hinterließen die Zeichen der Zeit ihre Spuren: Nach neun Jahren
verließ ihre Lebensgefährtin sie, weil sie Jüdin war. Im Februar
1933 wurde sie von den Nazis verhaftet, jedoch kurze Zeit darauf wieder frei gelassen.
Doch was tun, wenn im französischen Exil die ärztliche Approbation nicht
anerkannt wird? Mit Handlesen bei reichen Klienten - darunter auch Virginia Woolf
- und wissenschaftlichen Handanalysen verdiente sich Charlotte Wolff ihren Lebensunterhalt.
Und als sie 1936 erneut emigrieren mußte, gelang es ihr in London, sich auf
dem Gebiet der Chiromantie einen Namen zumachen. 1947 wurde sie britische Staatsbürgerin
und konnte ihre kriegsbedingt unterbrochenen Forschungen wieder aufnehmen.
Schon in früheren Jahren interessierte sie sich für das Themengebiet Psychologie
und Sexualität, und als zu Beginn der sechziger Jahre die ersten Schwulen- und
Lesbenorganisationen an die Öffentlichkeit gingen, weitete sie ihre Forschungen
auf die Bisexualität des Menschen und die weibliche Homosexualität aus.
Die 1971 erschienene "Psychologie der lesbischen Liebe" brachte Charlotte
Wolff internationale Bekanntheit ein. Vor allem, so berichtete Jane Rule, sei das
Buch als "die erste wirklich von Sympathie und Fairness getragene Abhandlung
über Lesbierinnen gepriesen worden". Ein zentraler Punkt ihrer Arbeit,
die auf Interviews und Tests mit 108 lesbischen Frauen beruht, betrifft die "Emotionalität".
Weibliche Homosexualität ist nach ihrer Definition "eine emotionale Disposition,
die zu engem vertrauten Kontakt zwischen Menschen des gleichen Geschlechts führt".
Dabei könne es zwar zu sexuellem Verhalten kommen, müsse aber nicht notwendigerweise.
Die Ursache für weibliche Homosexualität ist nach ihrer Auffassung die
"Wunscherfüllung einer inzestuösen Mutter-Tochter-Beziehung".
Dieser Inzestwunsch, der "Urgrund von Lesbianismus", ist eine Folge der
mütterlichen Bevorzugung des Sohnes gegenüber der Tochter.
Aus heutiger Sicht mag es durchaus irritieren, dass Charlotte Wolff mit diesen Thesen
zu einer Art Gallionsfigur der frühen Lesbenbewegung geworden ist - umso mehr,
da sie in der körperlichen Beziehung zwischen zwei Frauen, so glücklich
diese auch sein mag, immer einen "grundsätzlichen Mangel" erkennt
und lesbisches Leben für sie immer eine "tragische Komponente" enthält.
Ihr Verdienst ist jedoch, dass die "Psychologie der lesbischen Liebe" das
erste Buch ist, das sich wissenschaftlich und "wohlwollend" mit der Thematik
auseinandersetzt, Vorzüge und Charakterstärken von Lesben beschreibt, und
damit auch Identifikationsmuster für die frühe, noch suchende Lesbenbewegung
anbietet.
In den späten siebziger Jahren besuchte sie die Berliner Frauen-Sommer-Universität,
hielt Vorträge und pflegte Kontakte zu deutschen Lesbenorganisationen und Vertreterinnen
der Frauenbewegung - obwohl sie ein ein kollektives Aufbegehren gegen Unterdrückung
als "unsensibel und unzivilisiert" ablehnte. Charlotte Wolff starb am 12.
September 1986, kurz vor ihrem 89. Geburtstag.
Ute Roos
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