lespress0898   hart und zart
 

 

von Stephanie Sellier

TADZIO    
  Dresden, Mitternacht

Die Bar lag im Dämmerlicht. Ich konnte das Profil im blauen Rauchgespinst kaum erkennen. Sie saß breitbeinig auf dem Barhocker und fuhr sich ab und zu mit beiden Händen durch das dichte Haar, so daß es nach allen Seiten stand. Seine Spitzen waren vom Gegenlicht in einen goldblonden Schimmer getaucht. Es waren diese verhaltenen, aber großspurigen Gesten, die mich so irre machten, dieser jungmännliche Stolz auf den eigenen Körper, dem jedoch jegliche Arroganz fehlte. ÑBaby, ich mach´s dir gut, und ich beschütze dich, selbst wenn ich nur halb so groß und alt bin wie du, und ich werde für dich sorgen, indem ich den Stuhl für dich zurückschiebe.ì


Jetzt streifte sie, langsam und schwer, die Handinnenflächen über ihre gespreizten Schenkel, die in ausgebleichten Jeans steckten. Die Schenkel waren lang und kräftig, die Schenkel einer Liebhaberin, die dich umklammern und während des kleinen Todes Besitz von dir ergreifen. Ein Ring blitzte auf, als sie wieder zu ihrem Glas griff. Der Form der Flasche nach konnte es Mineralwasser sein: ein Grunge-Kind, nikotin- und alkoholfrei, aber zehn Ringe überall, weil der Schmerz ja irgendwo hin muß. Ich vergrub mein Gesicht zwischen den Händen und seufzte. Als ich wieder aufschaute, hatte sie zu tanzen begonnen, ohne ihre helle Fleecejacke auszuziehen, die weit und formlos um sie herumschwang. Baby, du rührst mich, Fleece ist nichts als ein Teddybär, in den man sich hüllen kann.


Ich rieb meinen Oberarm, als ob er schmerzte, und streifte dabei den Ärmel hoch. Ich wollte mein eigenes Fleisch spüren. Ihre Lippen waren halb geöffnet, während sie eine Textzeile vor sich hin zu flüstern schien. Sehr pathetisch. Ich rieb die feste Rundung meiner Schulter und wärmte sie mit meinen heißen Fingern. Auf der Tanzfläche war es voll geworden, obwohl in der Bar kaum Betrieb herrschte. Die Tanzenden waren wie Süchtige, als hätten sie sich den ganzen Tag nur danach gesehnt, sich in der Musik auszulöschen. Sie berührten sich mit dem stillen Einverständnis einer kleinen Szene. Meine Schöne war ihr Mittelpunkt, wie sie, die Arme um sich geschlungen, versunken auf der Stelle stand, sich langsam hin und her wiegte und nur ab und zu heftig den Kopf schüttelte, als würde sie plötzlich etwas verstehen. I like you I´m not gonna cry.


I miss you I´m not gonna cry. Meine Finger glitten über meine Lippen. Ich streichelte mit dem Handrücken meine Wange. Ich wünschte, dies wäre ein Saloon, und es gäbe ein kleines, dunkles Hinterzimmer, wo wir auf einem alten Sofa Bier trinken und knutschen könnten. Ich war plötzlich ganz schüchtern vor Verlangen und tastete nach meiner Bierflasche. Mir blieb nur die Augenlust, und mein Verlangen, mich zu spüren, wurde unerträglich. Ich zog unendlich langsam die Fingernägel über die Haut meines Unterarms, so daß weiße Streifen zurückblieben. Ich biß auf meinen Fingerknöcheln herum. Warum bringt Verlangen bloß immer das kleine, verlassene Mädchen in mir zum Vorschein?


Ich war wieder in der Tanzstunde und wartete zitternd darauf, daß die Angebetete mich aufforderte. Es war wohl besser, daß sie mich nicht aufforderte, denn dann würde ich mich wie eine Sozialtherapeutin benehmen müssen, weil sie wie jede andere Achtzehnjährige sein würde, ein kleiner, desorientierter James-Dean-Verschnitt. Der Punkt zwischen meinen Augen brannte. Ich nahm die Brille ab und rieb ihn. Ich lag in der Badewanne, der kleine Raum war in Dampfschwaden gehüllt. Ich war voller Erwartung und doch ohne Berechnung. Dann klopfte es zaghaft an die Tür, und ob sie hereinkommen könnte. Ja. Ich war so stolz, daß sie, die Erfahrene, mich jetzt in voller Pracht sehen würde. Sie glitt in den Raum und blieb schüchtern am Waschbecken stehen. Ich wußte, daß sie mich betrachtete, und blühte auf unter ihrem Blick. Sie schloß für einen Moment die Augen und sagte dann: ÑKann ich zu dir in die Wanne kommen.ì


Plötzlich war es still geworden, meine Bilder lösten sich auf, die Disco war vorüber, die Tanzenden zerstreuten sich. Mein Tadzio saß inzwischen wieder an der Bar. Ringsherum flammten die Lichter auf. Gleich würde sie gehen, stellte ich erschrocken fest, und fühlte mich doch erleichtert. Dann ging alles sehr schnell. Eine Frau um die vierzig kam auf sie zugeschossen. Sie schienen zusammenzugehören. Mir rutschte das Herz in die Hose, und ich dachte mit einem zynischen Lächeln: ÑAha, eine ältere Liebhaberin, die weniger Skrupel hatte als ich.ì


Ñ
Hallo Mamaì, sagte Tadzio im schönsten Stimmbruch. Anne, die sich vor einigen Minuten zu mir gesetzt hatte, bemerkte mein entgeistertes Gesicht und fragte: ÑGeht es dir gut?ì Ich riß mich zusammen und wandte mich zu ihr um: ÑNa ja, ich habe während der ganzen letzten Stunde einen vierzehnjährigen Jungen angebaggert.ì - ÑSchriftstellerinnenì, sagte sie nur kopfschüttelnd, während sie das schmutzige Geschirr einsammelte und wieder zur Theke brachte.
 
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