Auf der Flucht: Marina Zwetajewa  
  Die Lyrikerin Marina Zewtajewa gilt als eine der herausragenden VerteterInnen des russischen Symbolismus. Mehr als siebzehn Jahre ihre Lebens jedoch verbrachte sie jedoch im Exil und starb schließlich als Opfer des kommunistischen Regimes. Erst in den 60er Jahren, nach Stalins Tod, erfuhr sie eine späte Rehabilitation.

Marina Iwanowa Zwetajewa wurde am 9. Oktober 1892 in Moskau geboren. Ihr Vater, Iwan Wladimirowitsch Zwetajew, lehrte als Professor für Kunstgeschichte an der Moskauer Universität, lebte aber vor allem für den Aufbau des Museum Alexander III, das spätere Puschkin-Museum. Iwans zweite Ehefrau und Zwetajewas Mutter, Maria Alexandrowna Meyn, war hochgebildet, aber frustriert, da sie sich ihren Traum, eine bekannte Konzertpianistin zu werden, nicht erfüllen konnte. Neben ihren beiden Stiefgeschwistern Valeria und Andrej bekam Marina 1894 noch eine Schwester, Anastasia.
In ihren autobiographischen Essays beschreibt Zwetajewa eindrucksvoll ihre Kindheit: Ihre Mutter hatte sich einen musikalisch talentierten Sohn gewünscht und eine dichterisch begabte Tochter erhalten. Ihrem Zorn darüber machte Maria durch ständiges Nörgeln Luft, und manchmal zerriss sie auch Marinas Gedichte.
1903 infizierte sich Maria mit der damaligen "Volkskrankheit" Tuberkulose. Der gängigen medizinischen Lehrmeinung zufolge reiste die Familie nun durch halb Europa - der ständige Klimawechsel sollte Linderung verschaffen. Durch Schulbesuche in Italien, der Schweiz und Deutschland lernten Marina und ihre Schwester die jeweiligen Landessprachen; und so wurde nach dem Tod der Mutter im Jahr 1906 die Übersetzung von Edmond Rostands LķAiglon Marinas erste professionelle Beschäftigung mit der Literatur.
Ihre erste eigene Gesichtsammlung Abendalbum erschien 1910, nach vier akademisch unerfolgreichen Jahren (unter anderem an der Pariser Sorbonne), und erweckte sofort die Aufmerksamkeit des russischen Dichters und Kritikers Maximilian Woloschin. Woloschin wurde ein enger Freund und Mentor, und bei einem der Besuche in seinem Haus in Koktebel am Schwarzen Meer begegnete Zwetajewa auch dem jungen Offizierskadetten Sergej Jakowlewitsch Efron - 1912 sollten sie heiraten und noch im selben Jahr wurde die Tochter Ariadna, genannt Alja geboren. Wie all die Lieben in ihrem Leben war die Liebe zu Efron äußerst intensiv, wenn nicht gar obsessiv - was sie jedoch nicht davon abhielt, Affären zu führen. Die herausragendste dieser Affären war mit Sicherheit jene mit der Dichterin Sofia Parnok. Etwa zwei Jahre verbrachten sie miteinander, ehe sich Zwetajewa in das nächste Verhältnis, nun mit dem bekannten Dichter Osip Mandelstam, stürzte. Zeugnisse dieser stürmischen lesbischen Liebschaft sind Marinas Gedichtsammlungen Die Freundin und Der Fehler.
1917 folgt der große Umbruch: Die Russische Revolution stürzte das Land in einen Bürgerkrieg. Efron verließ Marina und seine gerade geborene zweite Tochter Irina, um in der pro-zaristischen Weißen Armee zu kämpfen. Obwohl Marina samt Kindern ihm nach Moskau folgte, sollten sie sich erst fünf Jahre später wiedersehen. Die Wirren im Riesenreich führten in der Zwischenzeit zu einer dramatischen Hungernot in der Hauptstadt. Marina, ohne helfende Verwandtschaft (ihr Vater war 1913 verstorben, ihre Schwester lebte an der Krim), war außer Stande, für sich und ihre Familie zu sorgen. 1918 gab sie Irina in ein staatliches Waisenhaus, in der Hoffnung, ihr Kind würde dort mehr Essen erhalten. Ein tragischer Irrtum, denn Irina verstarb eben dort zwei Jahre später an den Folgen von Unterernährung ... Die Dichterin, die zuvor noch glühende Verse auf die Stärke der Weißen Armee verfasst hatte, war tief bestürzt und voller Enttäuschung: "Gott hat mich bestraft", schrieb sie an einen Freund. Ein wenig Halt fand sie in dieser Zeit in ihrer wahrscheinlich zweiten lesbischen Affäre mit der Schauspielerin Sofia Gollidey, für die sie nicht weniger als sechs Theaterstücke erdachte.
1921 erhielt sie endlich eine Nachricht von ihrem Ehemann: Efron war vor der Verfolgung durch die Rote Armee nach Berlin geflohen, wohin ihm Marina und Alja im Mai 1922 folgten, nur um ein Jahr später erneut umzuziehen. Prag wurde die neue Heimat, die bittere Armut blieb bestehen. Als Student der Karls-Universität wohnte Efron, der sich inzwischen mit Tuberkulose infiziert hatte, in einem Wohnheim, während seine Frau samt Kind in einem Dorf außerhalb der Stadt mehr schlecht als recht logierte. Durch eine kleine Künstler-Apanage vom tschechischen Staat und Lesungen hielt Marina ihre Familie einigermaßen über Wasser, ebenso begann sie, vermehrt Prosa zu schreiben, da sich diese besser verkaufte.
Die Odyssee durch Europa hielt an, als Efron , angezogen von der großen russischen Exilanten-Gemeinde, 1925 beschloss, nach Paris zu gehen. Zwetajewa fühlte sich dort von Beginn an nicht wohl - und obwohl sie während der Revolution so flammende pro-zaristische Lyrik geschrieben hatte, unterstellten ihr andere Emigranten, nicht ausreichend "anti-sowjetisch" eingestellt zu sein. Als schließlich noch ein von ihr verfasster Lobesbrief an den von ihr sehr geschätzten sowjetischen Dichter Wladimir Majakowsky an die Öffentlichkeit drang, weigerten sich Verlage und Zeitschriften, weiterhin ihre Werke abzudrucken.
Die Ironie der Geschichte: In der Zwischenzeit hatte ihr Ehemann Efron tatsächlich Sympathien für die Sowjetunion entwickelt. Er träumte davon, in seine Heimat zurückzukehren, schreckte aber aufgrund seiner Vergangenheit als Soldat der Weißen Armee zu Recht davor zurück. Vielleicht aus Idealismus oder um sich bei den Kommunisten Liebkind zu machen, begann er, für den NKWD (den Vorläufer des KGB) zu spionieren ... Die Tochter Alja teilte im übrigen seine Ansichten, und stellte sich offen gegen ihre Mutter. 1937 kehrte sie als erste der Familie in die UdSSR zurück.
Im selben Jahr musste auch Efron gehen: Die französische Polizei warf ihm vor, den russischen Dissidenten Ignatij Reyss ermordet zu haben; nach seiner Flucht nach Moskau verhörte sie auch Zewtajewa, die aber glaubhaft versichern konnte, weder von der Spionage nach von einem Mord zu wissen. Trotzdem war sie ab diesem Zeitpunkt in Paris geächtet, und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schien ihr Europa nun auch nicht mehr sicherer als Russland. 1939 kehrte sie gemeinsam mit ihrem 1925 geborenen Sohn Georgij, genannt Mur, in ihr Heimatland zurück.
Zwetajewa konnte nicht ahnen, was sie dort erwartete. In Stalins Sowjetunion galt jeder, der im Ausland gelebt hatte, als verdächtig, ebenso wie jene, die vor der Revolution der Inteligenzija angehört hatten. Sie stand vor verschlossenen Türen - außer ihrem alten Freund Boris Pasternak, der ihr unregelmäßig Übersetzungsaufträge verschaffte, verweigerten ihr die sowjetischen Schriftsteller sämtliche Unterstützung.
Mann und Tochter traf es schlimmer: Beide wurden kurz nach Marina Rückkehr wegen Spionage verhaftet. Alja Verlobter, so stellte sich heraus, war eigentlich Agent des NKWD, der die Familie ausspionieren sollte... Efron wurde erschossen, Alja zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Stalins Tod wurden beide rehabilitiert.
1941, im Jahr von Efrons Tod, "evakuierten" die Behörden Zwetajewa und ihren Sohn Georgij in die Stadt Jelabuga in der Republik Tartastan. Ohne Besitz und ohne Hoffnung auf Zukunft, mit dem Geld für nur einen Laib Brot in der Tasche, erhängte sich Marina Iwanowa Zwetajewa am 31. August 1941 auf ihrem Dachboden. Die Lage ihres Grabes ist unbekannt.
Sabine König/Anne-K. Jung


Lesetipp:

Ursula Keller/Natalja Sharandak: Abende nicht von dieser Welt. St. Petersburger Salondamen und Künstlerinnen des Silbernen Zeitalters, 298 S., Aviva Verlag 2003
 
 
Unter dem Plüschplaid mich liebkosend
denk ich an gestern
den Traum:
Was war das?
Mein Sieg, Dein Sieg - bloß die besiegte Frau?
Ich überdenke alles
leide
noch immer alles nochmals neu
in dem, wofürės kein Wort gibt, keines -
War Liebe wohl dabei?
Wer war der Jäger?
Wer die Beute?
So teuflisch alles und verrannt.
Was lange schnurrend der Kater wohl von alledem verstand.

(aus: M. Zwetajewa, Die Freundin)
 
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