|
Valerie Solanas, obdachlose Prostituierte
mit Universitätsabschluss, verübte 1968 ein Attentat auf Andy Warhol und
erlangte damit jene fünfzehn Minuten Ruhm und Prominenz, die der Pop-Art-Künstler
in seinen Theorien für jeden Menschen gefordert hatte. Doch die "nicht
praktizierende" Lesbe und Radikalfeministin Solanas hinterließ mit ihrem
extremen "SCUM-Manifest" ein weitaus bedeutenderes geistiges Erbe als diese
Episode, durch die sie bekannt wurde. Die offenkundig hochintelligente Schriftstellerin
führte zuletzt ein Leben zwischen Psychiatrie und Obdachlosigkeit.
Valerie Jean Solanas wurde am 9. April 1936 als Tochter von Louis und Dorothy Solanas
in Atlantic City, New Jersey/USA, geboren. Inmitten des von Leichtigkeit und Oberflächlichkeit
geprägten Spielerparadieses verlebte Solanas eine äußerst unglückliche
Kindheit. Später sollte sie in einem Gespräch mit Andy Warhol erwähnen,
ihr Vater habe sie sexuell missbraucht. Auch nach der Scheidung der Eltern und dem
Umzug von Mutter und Tochter nach Washington D.C. änderte sich wenig an der
Misere des jungen Mädchens; nachdem Dorothy Solanas 1949 erneut geheiratet hatte,
wurde die inzwischen störrische und rebellische Valerie der Einfachheit halber
in ein katholisches Internat abgeschoben.
Sehr früh ließ sich hier bei ihr ein Sexualverhalten abseits der Norm
erkennen: Von zahlreichen sexuellen Kontakten mit Mitschülern und Außenstehenden
wissen ehemalige Schulkollegen zu berichten. Immerhin verliebt sich die nun dreizehnjährige
Valerie zum ersten (und wahrscheinlich letzten) Mal ó in eine Mitschülerin.
Wohl nicht aufgrund dieser lesbischen Liaison, sondern wegen ihrer Renitenz wird
sie zwei Jahre später vom Internat verwiesen. Auf der Straße und bei Freunden,
nicht etwa zurück zu Hause bei ihrer Mutter, meistert Valerie ihr noch junges
Leben und schafft sogar ihren High-School-Abschluss. Einige Quellen deuten darauf
hin, dass sie in dieser Zeit einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ.
1954 begann Valerie Solanas ein Psychologiestudium an der Universität von Maryland
- eine harte Zeit für eine Frau ihres Kalibers. Ein Foto zeigt sie mürrisch
dreinblickend, in Flanellhemd und Overall, neben ihren perlenbehängten Kommilitoninnen
in Twin-Set und Dauerwelle. Nicht zu vergessen: Es herrscht noch nicht die aufgeklärte
Atmosphäre der Präsidentschaft JFKs, sondern die muffige Spießigkeit
der Ära Eisenhower! Aufgrund ihrer Art und ihres Auftretens galt Solanas als
Lesbe, aber der renitenten junge Frau war die Meinung ihrer Zeitgenossen relativ
egal.. Und frei nach dem Motto: "Ist der Ruf schon ruiniert..." veröffentlichte
sie erste radikalfeministische Texte in der College-Zeitung: Schon damals vertrat
sie die Ansicht, dass sich Frauen ohne männliche Hilfe reproduzieren könnten
ó und dies auch tun sollten. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich während
des Studiums in einem Tierversuchslabor ihrer Fakultät, und wenn das nicht reichte,
ging sie anschaffen.
Über Solanas Verbleib nach ihrem übrigens ausgezeichneten Uni-Abschluss
ist wenig bekannt. Erst 1966/67 tauchte sie dann in der blühenden Subkultur
des New Yorker Greenwich Village auf, in der Tasche das Manuskript ihres ersten fiktionalen
Textes, dem Theaterstück "Up the Ass" (dt. "Leck mich")
über eine männerhassende, bettelnde Prostituierte. Während sie mehr
oder weniger auf der Strasse lebte, versuchte sie erfolglos, einen Produzenten für
"Up the Ass" zu finden. Erst als sie 1967 zufällig auf Andy Warhol
traf, rechnete sie sich eine reale Chance für ihr Theaterstück aus. Der
Pop-Art-Künstler und seine Kommune "The Factory" schienen eine ideale
freigeistige Basis für das radikale Stück zu sein. Sie übergab dem
exzentrischen Warhol, in dem sie eine verwandte Seele zu erkennen glaubte, das einzige
Exemplar von "Up the Ass" ó womit das Drama um Valerie Solanas und das
spätere Attentat auf ihren vermeintlichen Mentor begann.
Zwischenzeitlich hatte Solanas jedoch ihr Meisterstück verfasst: Das "S.C.U.M..Manifest".
Diese Schmährede der fiktiven "Society for Cutting up Men" (= S.C.U.M.,
"Gesellschaft zur Vernichtung der Männer", "scum" auf dt.
auch "Abschaum") gibt auf knapp 50 Seiten den Männern und dem Männlichen
die Schuld an jedem erdenklichen Übel der Welt, was sich in etwa so liest:
"Der Mann ist ein biologischer Unfall: Das männliche y-Chromosom ist ein
unvollständiges weibliches x-Chromosom. Mit anderen Worten, der Mann ist eine
unvollständige Frau, eine herumlaufende Abtreibung (...). Das männliche
Geschlecht ist mangelhaft, emotional eingeschränkt; das männliche Geschlecht
ist eine Mangelkrankheit und Männer sind emotionale Krüppel." Diese
Hasstirade, die letztendlich mit der Forderung endet, das männliche Geschlecht
auszurotten, bleibt dabei immer analytisch und logisch beobachtend ... und bei all
dem brillant satirisch.
Solanas versuchte, dieses gesellschaftspolitisch so revolutionäre Manifest auf
der Straße an die Frau zu bringen, war damit jedoch wenig erfolgreich. Ihre
Hoffnungen versteiften sich auf Warhol und eine Produktion ihres Theaterstücks
"Up the Ass". Doch Warhol hatte sein Exemplar - das einzige Existierende
- im Chaos seiner "Factory" verlegt und außerdem jegliches Interesse
verloren. Valerie verlangte einen finanziellen Ausgleich für ihren Verlust,
doch Warhol weigerte sich, ihr außer zwei kleinen Rollen in zweien seiner Filme
etwas zum Ausgleich zuzugestehen. Zu dieser Enttäuschung gesellte sich der von
Solanas als Knebel empfundene Vertrag mit dem Verleger Maurice Girodias, dem sie
inzwischen tatsächlich nicht nur die Rechte am "Manifest" verkauft
hatte, sondern auch die Rechte auf alle nächsten Publikationen. Im paranoiden
Wahn vermutete Solanas bald eine Konspiration zwischen Warhol und Girordias, denen
sie unterstellte, sie ihres Werkes berauben und ihr Leben zerstören zu wollen.
Am Nachmittag des 3. Juni 1968 entstieg Valerie Solanas dem Fahrstuhl zur "Factory",
zog aus einer Einkaufstüte eine 32er Beretta und feuerte fünfmal auf Andy
Warhol und den zufällig anwesenden Kunstkritiker Mario Amaya. Die eine Kugel,
die Warhol tatsächlich traf, beschädigte Lunge, Magen, Galle, Leber und
Speiseröhre, der Künstler überlebte jedoch. Wenig später stellte
Valerie Solanas sich mit den Worten "Ich habe Andy Warhol erschossen. Er hatte
zuviel Kontrolle über mein Leben" einem Verkehrspolizisten. Beim folgenden
Prozess verweigerte Solanas jeglichen Anwalt und verteidigte sich selbst. Wohl weil
Warhol nicht gegen sie aussagte, schrumpfte die Anklage von "versuchtem Mord"
auf "schwere Körperverletzung", und sie wurde zu drei Jahren Haft
in einem Gefängnis für geisteskranke Kriminelle verurteilt.
Doch auch nach ihrer Entlassung fuhr sie fort, Warhol zu terrorisieren, meistens
via Telefon. In wechselnden Intervallen wurde sie deshalb in den 70er Jahren immer
wieder in die Psychiatrie eingewiesen. Dazwischen konnte man ihr an verschiedenen
Plätzen in New York begegnen - schmutzig, verwahrlost und heruntergekommen.
Als ein Hausmeister das Zimmer eines Obdachlosenheims in der Mason Street in San
Francisco am 25. April 1988 aufbrach, weil die Mieterin mit der Miete im Rückstand
war, fand er Valerie Solanas tot auf dem Boden kniend vor, der Oberkörper mit
dem Gesicht nach unten auf dem Bett. Die Obduktion ergab, dass Valerie Solanas eine
Woche zuvor an einem Lungenemphysem gestorben war.
Sabine König/Anne-K. Jung
Literatur:
Mary Harron/Daniel Minahan: "I shot Andy Warhol. Screenplays. Includes the "SCUM
Manifestoî, 190 S., Grove Press, 1996
Valerie Solanas: "Manifest zur Vernichtung der Männer, SCUM, 190 S., Maro
Verlag, 1996
Film:
"I shot Andy Warhol", R: Mary Harron, mit Lily Taylor, Jared Harris |
|