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Für die
einen ist sie die Größte, ein Rock-Superstar, für die anderen nichts
weiter als eine der vielen Lesben mit Gitarre. Für die meisten ist sie allerdings
vor allem eines: Rolemodel und Galionsfigur der Lesben weltweit.
Paparazzi ahoi
Seit ihrem offiziellen
Coming out 1993 bleibt ihre "sexuelle Orientierung" in keinem Artikel unerwähnt.
Ihr Privatleben wird auf die Titelblätter aller möglichen Gazetten gezerrt.
Dabei ist sie anscheinend grundsolide, monogam und vor allem an einer glücklichen
Familie interessiert: mehr als zehn Jahre verbrachte sie mit Julie Cypher, sie haben
zwei Kinder.
Als Melissa Etheridge 1999 nach einer Babypause ein neues Album vorlegte, fragte
sich die interessierte Öffentlichkeit nur eines: wer ist der Vater ihrer Kinder??
So entschieden sich Julie Cypher, Filmemacherin und biologische Mutter von Tochter
Bailey und Sohn Beckett, Melissa Etheridge, Musikerin und Mutter sowie der Samenspender
David Crosby im Februar 2000 zum Cover-Outing auf dem Rolling Stone-Musikmagazin.
In den Happy-Queer-Family-Begriff wurde gleich noch David Crosbys Frau Jan mit einbezogen.
Aber auch nach ihrem Familien-Outing blieben Melissa Etheridge und Julie Cypher ein
dankbares Thema für die Klatschspalten. Ihre im September 2000 mit einer kurzen
Pressemitteilung bekanntgegebene Trennung ("With the utmost of love and respect
for one another, we have decided to separate") führte prompt zu neuen Schlagzeilen.
Herstory
Melissa Etheridge wuchs in Leavenworth, einer Kleinstadt in Arkansas im Mittleren
Westen der USA auf. Der Vater ist Lehrer, die Mutter Computerspezialistin bei der
US-Armee, als am 29. Mai 1961 Melissa Etheridge geboren wird, vier Jahre nach ihrer
Schwester Jennifer. An ihrem achten Geburtstag bekommt sie eine Gitarre und Unterricht
dazu. Bereits mit zehn Jahren schreibt sie ihren ersten Song, bald darauf tritt sie
regelmäßig mit ihrer Gitarre auf. Sie will Musikerin werden.
Trotz kleinstädtischer Atmosphäre hat sie noch vor ihrem 18. Geburtstag
ihr Coming-Out, zuerst gegenüber ihrem Vater. Sie schreibt sich am Berklee College
of Music in Boston ein, bricht das Studium jedoch noch im ersten Jahr wieder ab.
Mit 21 zieht sie nach Los Angeles, um berühmt zu werden. Doch Anfang der Achtziger
wartet Kalifornien nicht gerade auf eine Frau mit einer akustischen Gitarre. Vier
Jahre lang tourt sie durch Bars, Hotellounges und Cafés. Dann entdeckt sie
Chris Blackwell von Island Records und nimmt sie sofort unter Vertrag.
Her music
Mit ihrer Reibeisen-Stimme und einer 12saitigen Gitarre schuf sie ihren eigenen Stil
auf der Basis von zehn Jahren Live-Erfahrung: leidenschaftlicher Gitarrenfolkrock
- die Betonung liegt auf Rock - mit bluesigen Anteilen. Ihr Gesang ist in höchstem
Maße emotional, manchmal beinahe aggressiv, ehrlich und packend intensiv. Ihre
Texte beschäftigen sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie richten sich
an ein neutrales "you" und lassen damit eine Identifikation von beiden
Seiten zu, auch wenn von Anfang an viele Lesben zu ihren Fans zählten. Eifersucht,
Schmerz, Verlust und Sehnsucht stehen im Mittelpunkt ihrer Songs, weniger die romantischen
Gefühle.
Der Erstling "Melissa Etheridge" (1988) ist ungeschliffen, rauh und läßt
erkennen, daß Melissa Etheridge es gewohnt war, nur mit ihrer Gitarre allein
und live das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Mit einer Grammy-Nominierung 1989
für "Bring me some Water" bekommt ihre Karriere enormen Auftrieb.
Zwar erhält sie den begehrten Preis nicht, tritt jedoch im Rahmenprogramm vor
etwa 40 Millionen Fernsehzuschauern auf.
Das zweite Album "Brave and Crazy" (1989) wurde wie das erste live mit
der Band im Studio aufgenommen - ein ungewöhnliches Vorgehen, meistens spielen
die Musiker nacheinander ihre Parts ein. Referenzen an ihr Idol Bruce Springsteen
sind aus vielen Songs herauszuhören. Den Auftritt an der Seite Bruce Springsteens,
dem Helden der Arbeiterklasse, aus der auch ihr Publikum zu einem großen Teil
kommt, zählt sie selbst zu den Highlights ihrer Karriere.
Zu ihren Idolen gehört außerdem die weiße Bluessängerin Janis
Joplin, der sie im stimmlichen Ausdruck und in ihrer rohen Wildheit und der knisternden
sexuellen Ausstrahlung oft sehr nahekommt.
Unaufhaltsam auf dem Weg nach oben
Anfang der Neunziger tourt sie sehr viel und spielt inzwischen oft vor etwa 2000
Leuten. Privat befindet sie sich im Zweierkisten-Glück. Sie hatte Julie Cypher
1988 beim Dreh ihres ersten Musikvideos ("Bring me some Water") kennengelernt.
Julie Cypher, damals noch mit einem Schauspieler verheiratet, war an der Regie beteiligt.
Erst nach fast zwei Jahren wurden die beiden ein Paar und bezogen ein gemeinsames
Haus in den Hollywood Hills.
1992 erscheint "Never Enough" mit einer nur mit einer Jeans bekleideten
Melissa mit E-Gitarre auf dem Cover. In die Songs sind Synthesizer integriert, die
Arrangements sind rund, beinahe geglättet gegenüber der früheren Wildheit.
Auffallend ist die Stilvielfalt. In dem sehnsüchtigen "Dance without Sleeping"
verarbeitet sie den Krebstod ihres Vaters. Ein Abschiedslied begleitet sie nur auf
dem Klavier. Nach einer Ballade voller Intensität mit Cellobegleitung kehrt
sie zu den rockigen Tönen zurück. Manches wirkt wie für den kommerziellen
Popmarkt geschrieben, doch die Hitparaden stürmt sie wieder nicht. Für
"Ain´t it Heavy" jedoch gewinnt sie 1993 ihren ersten Grammy - und
das nach ihrem Outing.
Lesbischer Rock-Superstar
1992 hatte sich k.d.lang in einem Advocate-Interview geoutet und der gefürchtete
Karriereknick war ausgeblieben. Mit den Worten "I´m very proud to say
I´ve been a lesbian all my life" outet sich nun auch Melissa Etheridge
- völlig ungeplant und spontan beim lesbisch-schwulen Triangle Ball im Januar
1993 zur Feier des Amtsantritts Clintons. Wie bei k.d.lang schadet es auch ihrer
Karriere nicht mehr. Im Gegenteil: sie wird zu einer Person des öffentlichen
Interesses. Man will sie sehen und hören. Ihr nächstes Album "Yes
I am" - der Titel von vielen als lesbisches Statement verstanden - bringt ihr
den absoluten Durchbruch und verkauft sich allein in den USA über fünf
Millionen Mal. Ihre Texte sind noch autobiographischer geworden, musikalisch bietet
sie geradlinigen amerikanischen (Blues-)Rock. Und sie hat mit "Come to my Window",
ein Liebeslied aus der Ferne an Julie, den lang ersehnten Singlehit, der ihr außerdem
ihren zweiten Grammy einbringt. Fulminanter Abschluss des Tourneejahres 1994 ist
ihr Auftritt im ausverkauften Madison Square Garden in New York.
Selbstreflektion und Weiterentwicklung
"Your little Secret"
(1995) ist das bis dato autobiographischste Album. Sie setzt sich mit ihrer Kindheit
in Kansas auseinander und bezieht Stellung zu Intoleranz.
1996 verkünden Melissa und Julie: "Wir sind schwanger." Im Februar
1997 wird Bailey geboren, im November 1998 Beckett. Kinder zu haben, hätte sie
noch mehr zu einer politischen Aktivistin gemacht, sagt sie.
Mit ihrem Outing wird sie auch für unzählige politische Gruppen interessant.
Sie engagiert sich vielfach, u.a. in der Aids-Aufklärung, und mehr noch über
ihre Musik.
Auf dem Album "Breakdown" (1999) ist eine düstere Ballade Matthew
Shepard gewidmet, einem jungen Schwulen, der in Wyoming ermordet wurde. Musikalisch
nun angereichert mit Ausflügen in die Elektronik, beschäftigen sich viele
Songs mit Vorahnungen, Zweifeln, Alpträumen und Schwierigkeiten in Beziehungen.
Im September 2000 geben Melissa Etheridge und Julie Cypher ihre Trennung bekannt.
Damit ist die lesbische Musterfamilie jedoch nicht zerbrochen. Sie wollen weiterhin
zusammen ihre beiden Kinder betreuen und leben jetzt in zwei Häusern mit einem
gemeinsamen Garten. ("As committed parents, our top priority continues to be
what is in the best interest of our children. Though elements of our lives will change,
our family will always remain intact.")
Das neue Album "Skin"
Die Trennung verarbeitet Melissa Etheridge in ihren Songtexten. Alle Wut, alle tiefen
Gefühle, alle Liebe und alle ihre Fragen hat sie in ihre Songs hineingepackt.
"Habe ich dich nicht gut geliebt, oder nicht richtig?" Teils rockt sie
voller Power, teils betrauert sie melancholisch und sehr bluesig den Verlust ihrer
Liebe. Ihre Verletztheit ist sehr deutlich zu spüren, aber auch eine überschäumende
Energie. Am Ende überwiegt die Hoffnung.
Dass sie für die Aufnahmen fast keine Musiker anheuerte, sondern den Computer
und ProTools benutzte, war eine neue Erfahrung für sie. Sie sagt, daß
das Album schon seinen Zweck erfüllt habe, indem es der Heilung diente. So liegt
auch die Assoziation Skin / Häutung nahe. Melissa Etheridge hat erneut ein ausgereiftes
spannendes Album vorgelegt, das tief in ihr Inneres blicken lässt.
Klatsch und Tratsch auch in der lespress
Wundert es, dass die im Scheinwerferlicht sich oft ebensolche für ihre Beziehungen
suchen - die Mediengewöhnten kriegen wenigstens keine Krise, sondern ein freundliches
Lächeln ins Gesicht, wenn Kameras auf jeder Party klicken. Die letzte Frau,
mit der Melissa ausgehen wollte, schrak zurück und sagte, sie sei noch nicht
bereit dazu, auf den Titelseiten zu landen. Wundert es, dass Melissa sich nun wieder
in eine Frau aus dem Scheinwerferlicht verguckte: die Schauspielerin Tammy Lynn Michaels,
die sie bei einem Videodreh kennenlernte!
Irene Hummel |
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