Tänzerin des Lasters:  
  Anita Berber  
  Jahrzehnte vor Madonna und Co. sorgte Anita Berber mit ihren Bühnenauftritten für Skandale. Als expressionistische Ausdruckstänzerin und drogensüchtiger Star der homosexuellen Subkultur schockierte sie die bürgerliche Gesellschaft der Weimarer Republik - und faszinierte sie zugleich. Ihre "Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase" sollten symptomatisch sein für ihr kurzes Leben: Gezeichnet von Alkohol und Drogen starb sie 29jährig an Tuberkulose.

Die künstlerische Begabung wurde Anita Berber geradezu in die Wiege gelegt, als sie am 10. Juni 1899 in Leipzig zur Welt kam: Vater Felix war Professor für Violine und unter anderem beim Leipziger Gewandhausorchester engagiert. Ihre Mutter Lucie, geborene Thiem, tourte als Kabarettistin und Sängerin durch das Kaiserreich und feierte auf vielen der Bühnen Erfolge, auf denen später auch ihre Tochter auftreten sollte.
Entweder unterschiedliche Karrierevorstellungen oder "unüberbrückbare charakterliche Gegensätze" trennten den Weg der Eltern - die Quellenlage ist an diesem wie an vielen anderen Punkten in Anita Berbers Leben unsicher. 1902 reichten sie die Scheidung ein, die jedoch erst vier Jahre später rechtskräftig wurde. Die kleine Anita wohnte nun bei ihrer Großmutter mütterlicherseits in Dresden und besuchte dort standesgemäß eine Schule für höhere Töchter. Nach dem Ende der Schulausbildung durfte Anita zurück zu ihrer Mutter: Mitsamt der Oma zogen sie in eine Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Wohl zunächst aus Langeweile begann Anita, Tanzunterricht zu nehmen. Sicher nicht ohne die guten Showbiz-Kontakte ihrer Mutter erhielt sie diesen von einer Koryphäe jener Zeit: Rita Sacchetto war die impressionistische Ausdruckstänzerin Berlins und hatte unter anderem Valeska Gert unterrichtet. Nun förderte sie ihre neue, inzwischen 16jährige Elevin nach allen Kräften. Nur ein Jahr später trat Anita erfolgreich als "Zephir" im damals hochgeschätzten Blüther-Saal auf. Nach dieser gelungenen Bühnenpremiere tourte Sacchettos Compagnie durch halb Deutschland und gastierten mit ihrem Programm in Hannover, Leipzig, Frankfurt am Main und Hamburg. Schon bald kam es jedoch zu Spannungen zwischen Lehrerin und Schülerin: Rita Sacchetto mißbilligte Anitas exaltierten, überhöhten Stil. Ihr expressionistisches Naturell hatte sich nun offenbar voll entwickelt, und stieß sich mit dem diametral entgegengesetzten künstlerischen Ausdruck Sacchettos. Die Berber, kaum 18jährig, machte sich selbständig und trat fortan im Apollo-Theater und dem Wintergarten in Berlin auf. Ihre zu dieser Zeit einzigartige Tanzleistung und ungewöhnliche Kostümierung beeindruckten das verwöhnte Publikum - Anita ging auf Tournee in die Schweiz, nach Ungarn und Österreich.
Nach Ende des Ersten Weltkrieges kehrte sie nach Berlin zurück und heiratete spontan einen gewissen Eberhard von Nathusius - eine Verbindung, über die nicht viel bekannt ist. Fast sofort wurde Anita Berber für den Film entdeckt und begeisterte sich schnell für das noch junge Metier. Bis 1925 spielte sie in insgesamt 27 Filmen, unter anderem an der Seite von Hans Albers, Emil Jannings und Heinrich George. Auch in Fritz Langs berühmtem "Dr. Mabuse" wirkte sie mit. Bekannt wurde Anita Berber vor allem durch eine der skandalträchtigsten Filmproduktionen der Weimarer Republik: In Richard Oswalds "Anders als die Anderen" von 1919 - dem ersten Film mit homosexueller Thematik weltweit - spielt sie die mitfühlende Schwester des Kurt Sievers (Fritz Schulz). Sievers, jung und talentiert, wird von dem schwulen Geigenvirtuosen Paul Körner (Conrad Veidt) aus tiefer Zuneigung musikalisch gefördert; die Idylle wird jedoch gestört, als Körner wegen seiner Homosexualität und deren Strafbarkeit nach §175 erpresst wird. Körner wird schließlich deswegen verurteilt, erkennt vor Haftantritt seinen Geächtetenstatus als verurteilter Homosexueller und begeht Suizid. Dieser Film mit aufklärerischem Anspruch - der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld wirkte beratend mit - fiel nach seinem Erscheinen mehrfach der Zensur zum Opfer und wurde schließlich ganz verboten.
In ihren weiteren Filmrollen verkörperte die laszive Schönheit Anita Berber meist gefallene Mädchen und Prostituierte - mit großer Überzeugungskraft, denn sie kannte sich inzwischen gut aus im ÇMilieuí. Nachdem sie den langweiligen Eberhard verlassen hatte, stürzte sie sich in das schillernde Nachtleben der Großstadt Berlin mit all seiner Dekadenz und Lasterhaftigkeit. "Die Berber" tanzte freizügig in der Nachtrevue der schon damals als Lesbe bekannten Celly de Rheidt, trug als Erste Monokel und Männerkleidung, fand es schick, ein Äffchen spazieren zu führen - und verbrachte ihren normalen Alltag ganz "unnormal" mit ihrer Geliebten, der allseits bekannten Barbesitzerin Susi Wannowsky.
In dem schwulen Tanzkünstler Sebastian Droste fand sie 1922 ein gleichermaßen exaltiertes Gegenüber für ihre außergewöhnlichen Choreographien. Ihr erstes gemeinsames Programm - die "Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase" - enthielt Nummern wie "Die Leiche am Seziertisch", "Morphium" oder "Die Nacht der Borgia". Gleichfalls ein Partner war Sebastian Droste der Berber aber auch in der Sucht: Die neue Droge Kokain kam in der Berliner Subkultur auf, und Anita war natürlich auch hiermit nicht sparsam. Die beiden verloren sich in Drogenexzessen, und Rausch und künstlerisches Tun beeinflussten sich wechselseitig. So nimmt es nicht Wunder, dass die beiden nach einem Auftritt mit den "Tänzen" - die zwar das Publikum magnetisch anzogen, jedoch der Obrigkeit wegen ihrer titelgebenden Lasterhaftigkeit ein Dorn im Auge waren - in Gewahrsam genommen und nach Ungarn abgeschoben wurden. In Budapest heiratete die vornehmlich lesbische Berber den schwulen Droste - aber kaum zurück in Berlin stahl ihr der neue Ehemann, dem das Geld für seine Drogen ausgegangen war, sämtlichen Schmuck und setzte sich nach New York ab.
Und auch ihren nächsten Tanzpartner machte die Berber zu ihrem angetrauten Ehemann, nur ein Jahr später. Der Amerikaner Henri Chatin-Hoffman, wohl ebenfalls schwul, ersetzte ihr den entschwundenen Droste. Die beiden hatten erfolgreiche Auftritte in Berliner Kabaretts wie der "Rakete" und der "Weißen Maus" und eroberten auch die Bühnen in Köln, Düsseldorf und Breslau. Die Berber war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: Otto Dix verewigt sie in seinem Gemälde "Portrait einer Dame in Rot" und selbst die Porzellan-Firma Rosenthal stellt drei Miniaturen nach ihrem Abbild her. Klaus Mann, gerade 18 Jahre alt, sah einen Auftritte des berühmten enfant terrible in Berlin bei einem Auftritt - und war nachhaltig beeindruckt.
Auch das Nachfolgeprogramm der "Tänze des Lasters...", die "Tänze der Erotik und Ekstase", wurden zu einem gewaltigen Erfolg. Deren Premiere im Hamburger Alkazar folgte ein Angebot für eine Tournee durch den Nahen Osten. Ein Jahr später war es dann soweit: 1927 traten Anita und Henri ihre Reise nach Ägypten, den Libanon und Syrien an. In Damaskus aber brach Anita überraschend auf der Bühne zusammen - der Befund: Tuberkulose. Der jahrelange Alkohol- und Kokain-Missbrauch hatten ihre gesundheitliche Konstitution zusätzlich geschädigt. Sie wurde zurück in ihre Heimat Berlin überführt und starb schließlich, am 10. November 1928, im Bethanien-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg. Sie wurde auf dem Neuköllner St. Thomas-Friedhof beigesetzt, aber das Grab dieser unkonventionellen Diva, der ersten expressionistischem Bühnenkünstlerin mit internationaler Strahlkraft, ist schon seit Jahren eingeebnet. Kein Stein zeugt von ihrer außergewöhnlichen Existenz, dafür jedoch zahlreiche Kunstwerke ihrer ZeitgenossInnen.


Sabine König/ Anne-K. Jung





Internet:
www.anita-berber.de

Literatur:
Lothar Fischer: Tanz zwischen Rausch und Tod. Anita Berber 1918-1928 in Berlin, 96 S., 1984/1996; nur noch antiquarisch zu erhalten

Film:
"Anita - Tänze des Lasters", D 1987, R: Rosa von Praunheim, mit Lotti Huber. Eine alte Frau, Insassin eines Pflegeheims, hält sich für Anita Berber und erzählt Geschichten aus deren Leben.
 
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