"Venus Boyz" ó Eine Reise durch das Universum weiblicher Männlichkeit

 
   
  Breitbeinig steht die Person auf der Bühne, mit Anzug, Oberlippenbart und Koteletten, ein Fernsehprediger: "Ein Drag King ist eine Person, die ihre weibliche Männlichkeit akzeptiert", brüllt der Prediger schnodderig ins Publikum. Aber das ist kein Mann, das ist eine Frau im Männerkostüm. Eine Frau, die verblüffend gut die männliche Sprache, den Tonfall und den Gang imitiert und doch keiner ist. Eine Frau dazwischen.

Sie ist einer der Drag Kings aus dem Dokumentarfilm "Venus Boyz": Frauen, die als Männer auftreten und auch so wahrgenommen werden, einige für einen Abend bei einem Auftritt, andere tagtäglich und immer. Die Drag Kings inszenieren und durchbrechen das "Modell Mann" in verschiedenen Rollen: Der Fernsehprediger, der coole Dandy, der Gentleman.

Der in New York und London gedrehte Film gerät dabei nie zu einer Freakshow, im Gegenteil. Die Porträts sind intensiv und einfühlsam, es baut sich eine intime Nähe zu den Porträtierten auf. Die Kamera ist immer ganz nah dran und zeigt die Verwandlung von der Frau zum Mann im Spiegel, oder die Kopfrasur von Bridge Markland, Deutschlands bekanntestem Drag King.

Doch die gezeigten Personen alle über den einen Kamm "Frauen, die wie Männer aussehen" zu scheren wäre bei weitem zu kurz gegriffen. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Das Spektrum reicht von denen, die das "Mannsein" als Spiel und Performance betrachten bis zu anderen, die männliche Hormone schlucken. Es gibt die, die nur mal ab und zu in die männliche Rolle schlüpfen und andere, die männliche Hormone nehmen, ältere und jüngere, lesbische und heterosexuelle. Da ist zum Beispiel Diane Torr, die seit Jahren Drag-King-Kurse gibt und als Macho-Mann "Urlaub von Diane" macht. Oder Storme Webber, die überall als Mann angesehen wird, sich aber als Frau fühlt. Vielfalt heißt das Zauberwort, die Idee der Zweigeschlechtlichkeit wird auf den Kopf gestellt.

Und was dem Film seine eindringliche Intensität verleiht, ist die Reflektion der Drag Kings über sich selbst und ihr Leben. Ein Film, der sicher Diskussionen provozieren wird, aber auch Fragen: Warum sind Geschlechterrollen wie sie sind, was macht sie so starr, warum ist der Ausbruch so tabu-behaftet. "Be what you wanne be", sagt eine der Porträtierten im Film.

"Venus Boyz", uraufgeführt auf der Berlinale und ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, wird im Juli in die Kinos kommen. Lespress unterhielt sich vorab mit der Schweizer Regisseurin Gabriel Baur, die neben Dokumentarfilmen auch Experimental-, Spiel- und Kurzfilme macht.

Lespress: Was hat Sie am Thema "Drag Kings" interessiert, wie sind Sie darauf gekommen, diesen Film zu machen?

Gabriel Baur: Was mich auf den ersten Blick an den Drag Kings sehr angezogen hat, waren der Schwarze Humor und die unstereotypen Bilder weiblicher Männlichkeit, die sie repräsentieren. Teilweise sind die Bilder sehr Camp, aber auch wenn Sie nicht Camp sind, sind sie keine Männerbilder, wie wir sie jeden Tag in den Medien sehen. Es steckt eine Dekonstruktion von Männlichkeit dahinter, also eine Überzeichnung gewisser Männlichkeitsstrategien.
Ich habe gemerkt, dass die Drag Kings sehr viel zu sagen haben, teilweise wirkliche Persönlichkeiten sind und dass das, was sie tun, weit über die reine Darstellung und das simple Entertainment hinausgeht. Sie sind sehr, sehr verschieden. Auch ihre Offenheit hat mich interessiert.

Lespress: Meinen Sie ihre Offenheit gegenüber sich selbst?
Baur: Ja. Sie haben die Freiheit, verschiedene Aspekte von sich selbst darzustellen, zu leben, Risiken einzugehen. Und sie haben auch die Freiheit, ein Macho zu sein und das auszuprobieren. Gleichzeitig reflektieren sie auch stark darüber. Ich meine auch die Offenheit darüber, ob man jetzt homosexuell oder heterosexuell oder bisexuell oder pansexuell ist. Und die Offenheit anderen Menschen gegenüber.

Lespress: Die Frauen im Film sind sehr unterschiedlich. Warum war Ihnen diese große Bandbreite wichtig?
Baur: Diese Vielfalt war für mich selbst auch überraschend. Es ist mir klar geworden, welchen Reichtum es dort gibt, und das hat mich fasziniert. Das wollte ich näher kennen lernen ó und eben auch in den Feinheiten und Abstufungen zeigen. Ich denke, das ist auch ein Grund, warum der Film so viele Menschen erreicht, weil die Zuschauerinnen und Zuschauer die Vielfältigkeit in dieser Form einfach noch nie gesehen haben. Ich habe mir nicht selbst gesagt: Jetzt mache ich was Umfassendes, ich war selbst erstaunt, wie viel es da gibt, und es gibt natürlich noch viel mehr.

Lespress: Die Drag Kings sind auch extrem selbstreflektiert, so dass die ZuschauerIn unweigerlich anfängt, selbst mitzudenken, zum Beispiel über Geschlechterrollen. War das Ihr Ziel?
Baur: Ich hatte in diesem Sinne kein Ziel. Es waren die Menschen, die im Zentrum standen, die haben mich berührt. Je besser ich sie kennen gelernt habe, desto mehr war mir klar, dass sie wirklich sehr viel und sehr verschiedenes mitzuteilen hatten. Ich denke, auch im Film treten je nach Protagonist oder Protagonistin ganz verschiedene Aspekte hervor. Die einen machen das eher zum Ausloten ihrer eigenen Möglichkeiten, ihrer eigenen Sexualität, ihrer Erotik. Die anderen machen das auch, um ganz bewusst und politisch auf Dekonstruktion und Innovation zu Männlichkeit hinzuweisen, und dritte machen es wirklich, weil es ein existenzieller Aspekt ihrer eigenen Identität darstellt. Natürlich gibt es Vermischungen bei allen.
Ich denke, sie alle setzen sich bewusst damit auseinander, weil sie in der Gesellschaft auf einen Widerstand stoßen. Deshalb haben sie begonnen zu formulieren, wieso und warum sie was machen. Diane Torr leitet ja zum Beispiel die Workshops, "Be A Man For A Day", um die Erfahrungen, die sie gemacht hat, mit anderen zu teilen. Sie gibt anderen die Möglichkeit auszuloten, was das bei einem selbst bewirkt und zu realisieren, wie stark dieses Rollenverhalten in uns drin sind. Am ehesten merkt man das, wenn man es selbst ausprobiert. Das eine ist theoretisch, das andere ist praktisch erfahrbar.

Lespress: Haben Sie es denn selbst auch mal ausprobiert?
Baur: Ja.

Lespress: Und wie war es?
Baur: Erstaunlich. Absolut erstaunlich ó und für alle empfehlenswert. Es ist immer interessant zu sehen, welche Alter Egos in einem schlummern.

Lespress: Warum erstaunlich? Haben Leute anders reagiert auf Sie?

Baur: Ja, total. Ich hätte das nicht erwartet, obwohl das ja eigentlich durchschaubar war. Allein die Darstellung von Männlichkeit hat eine völlig andere Wahrnehmung meiner Person bewirkt.

Lespress: Warum zwingt uns die Gesellschaft Ihrer Ansicht nach in derart starre Rollen? Gerade maskuline Frauen gelten ja als abstoßend, als so genannte "Mannweiber".
Baur: Ich denke, es hat damit zu tun, dass die Gesellschaft dieses Rollenverhalten aufgestellt hat, um ganz bestimmte Macht zu verteilen. Wie schon Kate Bornstein sagt: Gender means class. Man wird geboren und die erste Frage ist: Ist das ein Mädchen oder ein Junge. Man wird eingeteilt und innerhalb dessen sollte man sich, wenn immer möglich, bewegen, um die Aufgaben in dieser Gesellschaft zu erfüllen. Ich denke, es gibt ein Interesse, dass die Leute in diesen Klassen bleiben, um gewisse Privilegien damit aufrechtzuerhalten. Beide Rollen haben bestimmte Privilegien.
Für gewisse Menschen sind diese Rollen wahrscheinlich absolut zutreffend für ihre Persönlichkeit, und für andere sind sie sehr repressiv. Ich denke, die meisten Menschen leiden eher unter diesen Zuteilungen. Natürlich möchte ich in meinem Film zeigen, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt, dass man auch sich selbst besser kennen lernen kann.
Ich habe mich im Verlauf dieses Films gefragt, wieso Frauen, die männliche Züge tragen, als hässlich angesehen werden. Es macht überhaupt keinen Sinn. Aber es stimmt nicht mit dem Bild der passiven, sich anpassenden Frau überein, also wird es bestraft. Das hat mit einer Tradition zu tun, und die ist sicher heute überkommen. Es gibt viele junge Frauen, die das nicht mehr so sehen, wobei ich in meinem Film über das noch weit hinaus gehe.
Ich habe bemerkt, dass ich selbst natürlich viele Vorurteile habe. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass ich eine Frau, von der man mir sagt, die hat Haare im Gesicht, als schön ansehen würde. Ich habe jetzt in meinem Film eine Frau, die hat ein kleines Bärtchen und ist wunderschön. Ich denke, ich bin nicht die einzige, die das so sieht. Es hat mich interessiert, meine eigenen Vorurteile sozusagen außer Kraft zu setzen, weil ich gemerkt habe, dass mein eigener Blick davon auch geprägt ist.

Lespress: Sie kommen in Ihrem Film den porträtierten Drag Kings sehr nah. Wie haben Sie es geschafft, dieses Vertrauen herzustellen?
Baur: Der erste Kontakt war völlig abhängig von den Einzelnen, ich kann da nicht generell sagen, es war schwierig oder nicht schwierig. Bei den einen war es einfacher als bei anderen. Diese Intimität im Film ist darauf zurückzuführen, dass ich die meisten von ihnen sehr lange gekannt habe. Ich habe 1996 begonnen und sie dann immer wieder gesehen. Das hat Vertrauen geschaffen. Ich denke, sie haben auch mit der Zeit gemerkt, dass ich sie nicht einfach ausbeuten oder als Exoten vorführen will, sondern ein wirkliches Interesse und Respekt ihren Personen, ihrem Leben und ihrer Arbeit gegenüber hatte.
Der Dreh war teilweise sehr aufwändig. Ich hatte zum Beispiel immer eine zweite Kamera laufen, die hat Experimentalaufnahmen gemacht, und wenn man diese Technik hat ist es umso wichtiger, dass das Vertrauen da ist, sonst erschlägt die Technik natürlich die Atmosphäre.

Lespress: Der Film ist ja kein klassischer Dokumentarfilm, er hat die von Ihnen angesprochen experimentellen und surrealen Abschnitte. Warum?
Baur: Das hat mit dem Thema zu tun. Es gab mir die Möglichkeit, diese dokumentarische Form, diese Beobachtungsform zu durchbrechen, weil mich das im Moment nicht so interessiert. Mich interessieren die Überschreitungen im Film selbst. Zuweisungen wie dokumentarisch oder fiktiv sind natürlich auch Konstruktionen.

Lespress: Wie reagiert denn das Publikum auf den Film?
Baur: Bis jetzt erlebe ich unglaublich schöne Sachen, direkt nach den Vorstellungen herrscht sehr oft eine sehr intensive Stimmung, sehr warm, sehr offen, mit tollen Diskussionen. Vielleicht liegt es auch am Publikum das kommt. Es ist wirklich ein tolles Feedback.
Was ich merke ist, das es natürlich dieses erste Vorurteil gibt. Ich denke, der Film hätte noch viel mehr Zuschauer, wenn sich die Menschen klar werden, dass sie sich darauf einlassen können, ohne abgestoßen zu werden oder sich zu langweilen. Es gibt viele, die nicht hineingehen, weil sie sagen: Ach, das will ich nicht sehen, die sind doch hässlich. Die, die dann gehen, sind dann meistens unglaublich angetan. Aber es braucht eine kleine Überwindung, dieses Vorurteil im Kopf ist da. Ich merke, dass das tief sitzt. Es gibt Menschen, die kommen aus dem Kino und sagen: Ich sehe die Welt ein klein wenig anders.
Der Film ist ja auch sehr erfolgreich, er war zum Beispiel bei der Berlinale dritter Publikumsfavorit im Panorama. Er geht in die Welt, er hat acht Kinoverleiher in Europa, er kommt in die Kinos. Das ist toll.

Lespress: Hat Sie denn der Erfolg des Films überrascht?
Baur: Ja, weil die Finanzierung sehr schwierig war. Bei sehr vielen Gremien bin ich auf Mauern gestoßen, ich habe gespürt, dass es ein Tabuthema ist, das Ängste auslöst. Ich war eigentlich darauf eingestellt, dass das so weitergehen könnte. Ich wusste, ich habe einen starken, schönen Film gemacht, aber das heißt natürlich noch nicht, dass der dann auch so wahrgenommen wird, eben wegen der Thematik. Das ist wie ein Wunder! Vielleicht ist es auch gerade die richtige Zeit, oder wir hatten einen guten Geist - oder alles zusammen.

www.venusboyz.net

Claudia Frickel
 
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