Belladonna 9CH  
   
  Drei Lesben aus Marseille und Nürnberg, die sich nach dem tödlichen Gift der Tollkirsche nennen, einen Mix aus TripHop, Dancefloor und House in Kombination mit akustischen Instrumenten spielen und das ganze mit einer aufregenden Bühnenshow präsentieren, und die sich auch noch politisch einmischen: kein Wunder, daß Belladonna 9CH weder bei MTV noch in den Charts zu finden ist. In Frankreich hat die Band eine Art Underground-Status. Sie spielten in Italien in besetzten Häusern. Sie haben Fans in Irland, in Deutschland, in der Schweiz und in Spanien. Mit ihrem neuen Album im Gepäck kommen sie im Juni nach Deutschland, unter anderem zum Lesbenfrühlingstreffen in Rostock.

Mit Agnès Royon Lemée, Karin-Anna Liedel und Michèle Coudriou sprach Irene Hummel.

Agnès und Michèle, ihr beide habt 1989 Belladonna gegründet. Wie verlief eure musikalische Entwicklung hin zu eurem heutigen Stil?
Michèle: Zuerst haben wir Songs nachgespielt und hatten ein Programm von einer halben Stunde, also mußten wir bei Konzerten alles zweimal spielen! Wir haben uns von Rhythm´n´Blues und Rock über Funk hin zu unserem jetzigen Stil entwickelt. Es ist eine Art House-Musik. Man kann es auch einfach Techno nennen, aber es ist nicht wirklich Techno, es ist wärmer als Techno, mehr Dancefloor-House mit einer Tendenz zu französischem Cabaret und seit neuestem TripHop. Wir mögen die Mischung verschiedener Stile sehr.
Außerdem mischen wir gerne elektronische mit natürlichen Sounds, und wir benutzen gerne akustische Instrumente. Sie haben eine intimere und traditionellere Klangfarbe.
Agnès: Ich habe Instrumente aus dem 14., 15. und 16. Jahrhundert, Reproduktionen natürlich.
Michèle:
Wir haben auch eine Menge mit surrealistischen Dingen zu tun, z.B. Malerei und Dichtung. Wir sind beeinflußt von KünstlerInnen wie "Die Brücke", Egon Schiele, auch von der französischen Surrealistik-Szene der 40er und 50er Jahre.
Agnès:
Wir mögen auch Gegensätze und Provokation. Das bedeutet auf der Bühne: Kostüme, Make Up und eine Show-Inszenierung. Schauspielerinnen sind wir nicht, aber zur Musik dazu gibt es eine Art Show, manchmal humoristisch mit Comic-Einlagen. Als wir das erste Mal in Berlin waren, sagten welche, wir sähen aus wie Berliner Cabaret-KünstlerInnen der 30er Jahre.

Seit drei Jahren ist Karin-Anna Liedel aus Nürnberg am Schlagzeug dabei. Habt ihr speziell nach einer Drummerin gesucht?
Agnès: Es war echtes Glück. Wir trafen Karin-Anna Liedel bei einem Festival in München. Sie spielte dort mit ihrer Band Hot & Spicy. Wir traten dort auch auf. Also - sie fuhr auf unsere Musik ab und wir auf ihre!
Wir haben uns dann bis spät in die Nacht unterhalten und beschlossen, es mal zusammen zu versuchen. Wir probten ein paar Tage und traten auf. Es war hervorragend! Unsere Zusammenarbeit ist sehr angenehm und befriedigend. Karin gibt den Auftritten ganz viel Power.

Wie sieht die Zusammenarbeit aus?
Michèle: Karin ist großartig, weil sie sowohl ein Gespür für Feinheiten als auch die Power hat, die wir auf der Bühne haben wollen.

Und wie sieht es praktisch aus?
Karin: Wir treffen uns immer wieder für ein bis zwei Wochen, manchmal auch in der Mitte zwischen Marseille und Nürnberg, also in den Schweizer Bergen. Aber wir schicken auch viel Bänder hin und her oder MP3-Files, zum Ideenaustausch. Meistens macht Michèle die Musik, Agnès die Texte und ich bin für die rhythmische Umsetzung des Ganzen verantwortlich.

Agnès und Michèle - wie schreibt ihr beide gemeinsam ein Lied?
Michèle: Manchmal spielt Agnès etwas auf dem Keyboard, ich nehme es auf und verändere es am Computer. Oder sie schreibt einen Text und ich mache die Musik und die Arrangements dazu.
Der Prozeß, wie so ein Lied entsteht, ist nicht einfach zu kontrollieren. Es ist manchmal richtig unbewußte Arbeit, als wenn in deinem Kopf ein Puzzlestück an die richtige Stelle fällt. Agnès gibt mir einen Text, zwei Jahre später habe ich plötzlich eine Idee für eine Atmosphäre, eine Soundlandschaft, die dazu paßt. Dann gehe ich zum Synthesizer und setze die Ideen um. Dann kommt Agnès und hört sich das an und trägt wieder etwas bei mit Saxophon oder Dudelsack oder was immer. Es ist echt wie Zauberei mit unserer Zusammenarbeit. Wir ergänzen uns wunderbar.

Wolltet ihr schon immer professionelle Musikerinnen werden?
Michèle: Ich wollte Rock´n´Roll Star werden!
Karin: Es war alles nicht so geradlinig. Meine Eltern wollten, daß ich Steuerberaterin werde und ich ging auf eine Wirtschaftsschule. Dann habe ich Computergrafik gelernt und wollte anschließend Freie Malerei studieren, hatte sogar schon den Studienplatz. Statt dessen bin ich für ein Jahr in Ägypten gelandet, als Schlagzeugerin einer Band. Seitdem dreht sich bei mir alles um die Musik. Ich habe Schlagzeug studiert, gebe Unterricht und trete auf.
Agnès:
Ich arbeite nicht, wenn ich Musik mache. Ich liebe Musik über alles. Ich mag dieses Leben und ich brauche es. Ich fing mit zwölf an, Musik zu machen.
Michèle: Ich mit zehn. Es ist wirklich unser Universum. Wir haben beide nicht den Eindruck, daß wir arbeiten, wenn wir spielen. Wir brauchen die Musik genauso notwendig wie Luft und Wasser. Wir hören dauernd Musik, beschäftigen uns dauernd mit Musik. Es ist einfach unser Element.

Habt ihr schon als Kind Instrumente gelernt?
Michèle: Erst Klavier, später in meiner Hippie-Periode lernte ich Gitarre. Dann habe ich mich eine Zeitlang mit zeitgenössischem Tanz beschäftigt. Als ich wieder zur Musik zurückkehrte, kaufte ich mir einen Synthesizer und einen Sampler, dann ein Homestudio usw.
Agnès: Ich begann mit Blockflöte, dann Oboe. Ich spielte erst Barockmusik. Percussion, Saxophon und all die Rohrblatt-Instrumente: Bombarde, Challinet, Cromorne. Das sind alte Renaissance-Instrumente.
Karin:
Ich habe klassisches Klavier gelernt, von der Pike auf und ziemlich lange. Aber meine ältere Schwester spielte in einer Frauen-Rockband und eines Tages ist deren Drummerin weggezogen. Da hat meine Schwester mich einfach ans Schlagzeug verfrachtet, ganz ohne Vorkenntnisse. Und das fand ich von Anfang an wirklich total geil!

Was bedeutet ein Live-Auftritt für euch?
Michèle: Es ist etwas, das wir geben wollen. Wir finden es toll, wenn das Publikum reagiert und mitgeht, wenn die Frauen wirklich zuhören und teilhaben. Wir fühlen, daß da etwas ist zwischen uns und dem Publikum. Energie. Es ist für mich so ähnlich wie das Gefühl bei der Liebe, es ist ein Austausch von Energie und Liebe. Wenn wir eine Zeitlang nicht auftreten, vermissen wir dieses Gefühl besonders.
Karin: Ein Auftritt ist sozusagen das I-Tüpfelchen. Obwohl ich mich vor ganz vielen Leuten am Anfang immer nicht so wohl fühle und mich erst dran gewöhnen muß. Aber ich brauche auch das Feedback der Leute.

Stellt ihr euch als Lesben vor?
Michèle: Wir müssen das nicht extra laut betonen, aber es ist offensichtlich. Wenn du uns einmal auf der Bühne siehst - worüber wir reden, wie wir miteinander umgehen - die Leute fühlen es, wenn sie uns auf der Bühne sehen. Wenn jemand direkt fragt, sagen wir natürlich, daß wir Lesben sind. Interessant ist - wir spielen nicht nur in der Lesben- und Schwulenszene - daß niemals Leute deswegen schockiert oder aggressiv sind. Wir machen eben keine Provokation daraus. Wir denken, echte Sichtbarkeit bedeutet, einfach du selbst zu sein. Ich spiele bei Belladonna und ich liebe Frauen. Es ist Teil meiner Identität. Aber dennoch machen wir keine "Lesbenmusik". In erster Linie sind wir Musikerinnen. Und wir machen eben Musik mit unserem lesbischen Hintergrund.
Agnès: Wir sind sehr kämpferisch, als Feministinnen, als Lesben und für Minderheiten generell. Wir machen viel Arbeit für Act Up, wir engagieren uns auf der Seite von Minderheiten.

Was ist wichtiger für euch, die Musik oder die politischen Inhalte?
Agnès: Beides natürlich, aber die Musik ist unser Ausdruck - und nicht nur ein Vehikel für die politischen Aussagen.

Stichwort Elektronik - Michèle, wie bist du darauf gekommen?

Michèle: Zuerst, als ich den Synthesizer kaufte, wollte ich Sounds verändern. Dann wollte ich meine eigenen Sounds herstellen, dafür brauchte ich einen Sampler. Zum Beispiel kann ich Hundegebell oder das Geräusch meiner Waschmaschine sampeln. Ich kann damit arbeiten und auftreten. Es ist echte Freiheit! Für eine Musikerin ist der Sound, den du entwickelst, deine Identität.
Außerdem wollten wir autonom sein. Und wir hatten eben nicht die ganzen Instrumente in Form von Musikerinnen auf der Bühne, deshalb haben wir von Anfang an einen Sequenzer gebraucht, danach einen Computer, weil es vollständiger ist usw. Wenn wir ins Studio gehen würden und sagen, wie wir uns vorstellen, wie es sich anhören soll - das würde nie funktionieren, wenn nur ich es im Kopf habe. Das beste ist immer, alles selbst zu machen!

Wer hat dir den Umgang mit der Technik beigebracht?
Michèle: Ich habe mir selbst Stück für Stück beigebracht, damit umzugehen. Ich hasse Bedienungsanleitungen, lieber lasse ich es mir von Freunden erklären. Ich kenne noch zwei Frauen, die mit Computern arbeiten, und wir tauschen uns regelmäßig aus und geben uns gegenseitig Tipps und Ratschläge.
Ich liebe die ganze Technik auch nicht besonders, aber ich mag es, sie benutzen zu können für meine kreativen Schöpfungen.

Warum finden Frauen nicht so leicht Zugang zu Elektronik und der entsprechenden Musik-Szene?
Michèle: Als Frau hast du eine Blockade gegenüber Technik, aus unserer Kultur und Sozialisation heraus. Das ist bei uns fest im Kopf verankert. Außerdem ist es als Frau auch nicht leicht, sich die entsprechende Technik im Laden zu besorgen. Man muß schon sehr stur sein. Das bin ich zum Glück!

Wovon handeln eure Texte und wie kommt ihr auf die Ideen?
Agnès: Wir singen über das, was uns beschäftigt. Auf dem Album "Marseilles" über Sarajevo, Frauen in Marokko oder in Algerien, Aids usw. Das waren eher traurige Themen. Manchmal verarbeiten wir auch unsere Gefühle und unsere eigenen Liebesgeschichten in Songs - wie in "Cérémonie" und "La Comète". Lieder über Liebe und Streit und Machtspiele, also Geschichten, die jede kennt.

Auf eurem neuen Album findet sich auch ein jüdisches Lied. Habt ihr Verbindungen zum Jüdischen?
Michèle: "Shomele" ist ein traditionelles Stück. Wir haben es zum ersten Mal gehört, als eine Freundin es uns im Backstage vorsang. Es hat uns bewegt und fasziniert. Sie hat es uns dann aufgenommen. Ich habe es erst ein paar Monate liegenlassen und dann hatte ich eine Idee dazu. Meist arbeite ich zuerst mit den Sounds und die Melodie kommt dann nach. Aber hier war es einfacher, es war ja schon ein Gerüst des Liedes da, das ich sozusagen bekleiden mußte.
Agnès´ Freundin ist Jüdin slawischer Herkunft. Jüdische Kultur hat so viel zu bieten, nicht nur musikalisch. Ich mag östliche Musik überhaupt, und die aschkenasische Kultur und ihre Musik berührt mich besonders. Die Geige und das Akkordeon sind einfach immer total beeindruckend.

Früher habt ihr noch viel mehr Show, mehr in Richtung Theater auf der Bühne gemacht. Das hat sich in letzter Zeit geändert.
Agnès: Es war alles sehr jung und unreif. Wir haben versucht, in alle Richtungen gleichzeitig zu gehen, sehr explosiv und chaotisch.
Inzwischen sind wir etwas älter und reifer geworden, haben viel erlebt und ausprobiert. Im Leben balancierst du auf einem Seil. Anfangs versuchst du vor allem, nicht zu fallen und du schaust nicht, wohin du gehst, sondern gleichzeitig in alle Richtungen. Jetzt sind wir darüber hinaus, sozusagen im zweiten Abschnitt angekommen. Wir gehen in die Richtung, die wir gewählt haben. Wir müssen nicht mehr überall hinschauen.
Die Show ist nicht weniger lebendig geworden, nur weniger chaotisch und dafür kohärenter, in sich stimmiger.

Was wird auf dem neuen Album "Mirages Magnétiques" zu hören sein?
Michèle: Eine schöne Mischung: ein bißchen TripHop, so ähnlich wie auch schon "La Comète" auf dem letzten. Dann House/Dancefloor, teils auch sehr lustig. Dann haben wir einen Trance-Song, aber sehr warm mit Dudelsack. Zwischen Techno und Trance. Aber ich sollte den Begriff Techno gar nicht verwenden. Techno ist kalt, mehr wie Erde. Wir mögen es mehr wie Wasser. Also eher zwischen House und TripHop. Cabaret haben wir gerade ein bißchen ausgeklammert, wir brauchten Distanz davon, damit wir es demnächst auch wieder persönlicher gestalten können. Aber der "Chanson realiste" ist noch in unseren Texten präsent. Ich schreibe mehr abstrakt, Agnès mehr realistisch. Wir haben eben verschiedene Arten zu kommunizieren.

Spielt ihr gerne oder sogar lieber nur für Frauen?
Agnès: Ja, es ist eine ganz andere Erfahrung - es ist einfach wie Familie. Wir können mehr aus uns herausgehen und Sachen machen, die wir vor gemischtem Publikum nicht machen würden oder noch nicht mal vor lesbisch-schwulem Publikum. Unter Frauen kannst du relaxen, entspannen, deinen Gefühlen freien Lauf lassen. Das ist kostbar und gibt uns auch viel Energie zurück.
Karin: Wenn ich es privat betrachte - lieber nur für Frauen! Aber eigentlich finde ich es wichtig, daß Frauen vor gemischtem Publikum auftreten und es sozusagen den Männern zeigen. Und es gibt noch soviel zu bewegen in den Köpfen. Neulich haben wir uns in einem Club für einen Auftritt beworben, da sagt doch dieser Typ: Wir hatten gerade erst vor drei Monaten einen Frauenband!

Könnt ihr von der Musik leben bzw. was macht ihr sonst noch so?
Michèle: Wir haben neben Belladonna noch andere Projekte: Filmmusik, Dancemusik. Dann gibt es diese Straßentheater-Gruppe in Nancy, mit denen wir zwei Jahre lang eine Show machten: Oz-théatre-danse, nach dem Zauberer Oz. Sie war vom japanischen Theater inspiriert.
Agnès: Ich habe zusammen mit meiner Exfreundin eine Lesbenbar in Marseille gegründet, nicht nur für Lesben, auch für lesbenfreundliche Leute.
Michèle legt dort manchmal auf, außerdem machen wir Ausstellungen, Lesungen und viele antifaschistische Aktivitäten, gegen Le Pen usw.
Karin: Neben Belladonna spiele ich bei der Band Hot & Spicy. Unser Stil ist eine Dancefloor-House-Soul-Funk-Mischung und die Hits der letzten 20 Jahre. Dann gibt es noch diese ganz neue Soulband "Four Love Joy", mit der ich auch beim LFT auftreten werde, mehr so in die Herz-Schmerz-Richtung. Die Sängerin hat eine herausragende tiefe Soulstimme.
Außerdem gebe ich Schlagzeugunterricht und Drum-Clinics, und ich mache viele Workshops speziell für Mädchen und junge Frauen. Ich habe noch viele Ideen, mir schwebt zum Beispiel ein Percussion-Projekt mit sechs Schlagzeugerinnen vor, die von einer Kirchenorganistin begleitet werden. Oder ein Projekt aus vier DJanes in den vier Ecken eines Raumes und vier Schlagzeugerinnen, die in der Mitte in der Luft hängen. Die sollen dann Soundcollagen erzeugen, zu denen die Leute drunter tanzen.

Und was habt ihr für Zukunftspläne, Michèle und Agnès?
Michèle: Mit siebzig will Agnès Bolschoi-Star sein und ich werde Klassische Harfe lernen... okay, das war ein Scherz.
Agnès:
Mal ganz im Ernst - ich hoffe, daß ich meine nächste Apfeltorte hinkriege!




Besucht Belladonna 9CH
- auf ihrer Webseite
www.multimania.com/bch (frz./engl.)
- in ihrer Lesbenbar "AUX TROIS G" in der Rue St. Pierre in Marseille
- und natürlich auf dem Lesbenfrühlingstreffen in Rostock
 
   
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