Von der Lesbe zur Krete  
 
Wenn nachts in Skala Eressos auf der griechischen Insel Lesbos am Strand ein Feuer lichterloh leuchtet, dann ist es wieder so weit. Zahlreiche Generationen von Lesben begeben sich auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Gebärmütter.(
1) Dass muss so sein. Das ist ein Gesetz. Und Gesetze breche ich nicht. Deshalb folge ich der bunten Schar, die im Dunkeln wie ein Schwarz-Weiß-Film auf mich wirkt. Neugierig trete ich in die Fußstapfen derer, die das Lesbischsein erfunden haben.

Der Tanz mit dem Feuer am vom Vollmond gülden strahlenden Sandstrand ist ein traditionelles Ritual. Es heißt "Nackte Nacht" und ist Spiritualität in Reinkultur. Hollywood-Filme heißen häufig "Der mit dem Wolf tanzt" oder "Das Schweigen der Lämmer". Dieses einzigartige Happening könnte man getrost "Wenn das Schaf im Wolfsfell hüpft" oder schlicht "Wer mit dem Feuer fickt" nennen.
Man muss sich das so vorstellen: 30 Lesben verschiedener Nationen tanzen um ein Lagerfeuer und versuchen dabei zu singen. Eine Amerikanerin singt Tracy Chapman, eine andere zitiert Marla Glen mit französischem Akzent und eine Angelsächsin wagt sich sogar an Melissa Etheridge. Hin und wieder hören wir eine deutsche Stimme leise trällern:
"Ich bin so heiß wie ein Vulkan. Hu-hu-hu-hu. Und heut verbrenn ich mich da-rahn."
Das bin ich. Ich versuche, mich zu integrieren. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, dass hier Fröhlichkeit vorgetäuscht wird, um schlimme Erlebnisse aus der Kindheit zu kaschieren. Trotzdem mache ich mit. Ich will dazu gehören. Ich will auch eine echte Lesbe sein. Also laufe ich um das Feuer, lächele freundlich, singe mein Lied und bastele mir mit zwei abgespreizten Fingern hinter meinem Haupthaar eine Feder. Dazu beugt sich mein Oberkörper wie der einer blutjungen Squaw auf und ab.
"Hu-hu-hu-hu," tönt es erneut aus meinem Mund. Doch ich gehe in dem Getöse unter. Eine andere hebt sich hervor. Samani. Samani ist eine bekiffte Osho-Anhängerin. Auf Unbeteiligte wirkt sie wie die Reinkarnation des Humanismus, aber als ich sie neulich fragte, wer Osho ist, ("Ist das nicht der, der die ganzen Rolls Royce gesammelt hat?"), bekam ich eine nonverbale Antwort. Also keine. Wahrscheinlich mag sie nicht erklären, was verbal keinen Sinn ergibt. Das ergibt ja keinen Sinn.
Samani ist ein anerkanntes Mitglied der meditativen Mittelmeer-Mösenmafia.(
2) Die Mittelmeer-Mösenmafia, so habe ich gelernt, setzt sich aus Aussteigerinnen zusammen. Hier grenzt man sich pauschal von dem Begriff der Zivilisation ab, d.h. es wird weder geduscht noch gearbeitet.
Samani verläßt unser kleines Kollektiv. Sie hat jetzt die Hauptrolle bekommen. Sie ist die, die mit dem Feuer fickt. Orgiastisch gebärdet sie sich zum Vollmond direkt an den Ausläufern der Glut vor einem gespannten Publikum. Sie reißt sich jetzt zum Klang einer mit echtem Büffelinnen-Leder beschichteten Trommel die Kleider vom Leib. Samani ist von ihrer Gebärmutter ergriffen. Ja, sie hat scheinbar ein richtiges Gebärmutter-Trauma, so sehr schüttelt sie sich. Ihr Unterleib fickt, wie vom Teufel ergriffen, das Feuer. Ihr langes blondes Haar droht, in Flammen aufzugehen. Erschrocken vor so viel explosivem Temperament, trete ich langsam zurück und verstumme ehrfürchtig. Anders die anderen. Die klatschen und wiegen sich solidarisch im Takt dazu. 29 wild gewordene Weiber in Trance.
Vorsorglich entferne ich mich mehrere Schritte, so dass ich nur noch im Schatten des Spektakels stehe. Ich bin ratlos. Warum freue ich mich nicht mit ihnen? Ich kann es nicht. Meine Identität gerät ins Wanken. Ich will nicht länger lesbisch sein. Ich will eine Krete von Kreta werden oder eine Same von Samos. Aber um nichts in der Welt will ich einen weiteren beschissenen Tag in meinem Leben eine Lesbe sein.

Nachdenklich verlasse ich den Strand. Mit jedem Schritt trete ich eine Sandwolke in die Luft. Ein imaginärer Fußball. Aber viele Lesben spielen Fußball. Also will ich auch keine Sandwolken mehr in die Luft treten. Ich muss auf die Pirsch. Auf die sogenannte Protest-Pirsch. Jede Lesbe beschließt irgendwann einmal im Leben, heterosexuell zu werden. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Ich persönlich bin enttäuscht. Bis heute nacht war ich fest überzeugt, dass ich als Lesbe lediglich trinkfest sein müsste. Nie hätte ich gedacht, dass der expressionistische Nackttanz auch dazu gehört! Also bin ich es leid. Ich bin auf der Suche nach einem Lesb. Nach einem Mann, der auf Lesbos lebt. Ein echter Grieche, der niemals mit dem Feuer ficken würde, sondern nur mit einer echten Frau. Deshalb beschließe ich, eine echte Frau zu werden. Eine Krete oder eine Same.
Wieder im Ort angelangt, setze ich mich in die nächstbeste Bar und bestelle ein Bier. Niemand nimmt von mir Notiz. Was mache ich denn nun schon wieder falsch? Ihr blöden Griechen, denke ich. Wenn ihr auf lange blonde Haare steht, dann müsst ihr an den Strand. Da steht so eine. Die fickt aber nicht mit euch, sondern nur mit dem Feuer. Wie ein Schaf im Wolfsfell.
Ich halte es für sinnvoll, mich femininer zu postieren. Meine Beine lege ich so übereinander, dass sich der rechte Fuß von vorne kommend hinter der linken Ferse einklemmt. Das sieht zwar verkrampft aus, aber Männer stehen auf so etwas. Da bin ich mir sicher. Dann blicke ich beiläufig auf meine Flasche Bier, die ich fälschlicherweise ohne Glas geordert habe. "Eine Dame trinkt doch nicht aus der Flasche," erinnere ich Tante Hanni auf Oma Gertruds Geburtstag monieren. Kacke. Im nächsten Moment will ich mir eine Zigarette anzünden. Dazu erhebt sich meine ungebetene Hand schützend vor die Flamme des Feuerzeugs. Es ist so, als würde ich mir selbst Nachhilfe in adäquater Etikette erteilen. "Nimm die Pfote weg!" herrsche ich mich an. "Du siehst aus wie ein Bauarbeiter!"
Irgend etwas piekst mich zum ersten Mal bewusst an meiner rechten Pobacke. Es ist mein Portemonnaie. Darin sammele ich abgelaufene Kreditkarten und Adressen seit 1988. Es ist verdammt dick. Ich befreie es unauffällig aus der Hosentasche und lege es auf den Tisch. Ich wünsche mir eine Handtasche. Aber ich habe keine, also tue ich so, als gehöre mir der Geldbeutel gar nicht.
Plötzlich passiert etwas, was mich sichtlich aus der Fassung bringt. Ein Mann interessiert sich für mich, so wie Gott mich geschaffen hat, bzw. so, wie ich dort sitze, die Beine verkrampft, mich für die Flasche Bier schämend, von der ich nicht zu trinken wage, weil ich kein Glas besitze. Von der ich nicht trinken darf, weil ich feminin sein möchte.
Er heißt Costas. Wie alle Griechen. Und er spricht Englisch mit mir, nachdem er festgestellt hat, dass ich keine anderen griechischen Vokabeln als ÇHalloë und ÇProstë kenne. Das Prost erweist sich als völlig überflüssig, denn ich trinke ja nicht. So viel Manieren will ich mir schlußendlich selbst beweisen.
Der Peinlichkeit halber stelle ich ihm eine unmögliche Frage, aber man muss mir zu Gute halten, dass ich wirklich nicht weiß, wie man mit Männern flirtet. Und ich sage:
"Are you a real lesb?"
Womit ich mich versichern will, dass ich es nicht mit einer Lesbierin zu tun habe. Von denen habe ich ja die Schnauze gestrichen voll.
Costas lacht, aber er scheint irgendwie nichts verstanden zu haben. Ich neige meinen Kopf zur Seite und überlege, was in ihm vorgeht. Das ist mein größtes kommunikatives Problem. Ich versetze mich ständig in mein Gegenüber und bin überzeugt, ich könne es besser verstehen, wenn ich die Welt aus seinen Augen zu begreifen versuche. In Costas grünen Augen schimmert eine schelmisch-nervöse Komponente, die mich ahnen lässt, dass er sich hilflos fühlt. Er weiß offenbar nicht, worüber er mit mir reden soll. Sein Blick wirkt ratlos. Ich muss ihm entgegenkommen. Aber es gibt Unterschiede zwischen den Kulturen und den Geschlechtern. Diese Lücken muss ich schließen. Ich muss versuchen, eine gemeinsame Basis herzustellen. Ich muss Themen finden, die uns beide interessieren, Fragen, die ihn dazu verleiten, mir von sich zu erzählen.
Die Strategie, mich in ihn hineinzuversetzen, schlägt zweifellos fehl. Damit vermittele ich ihm offenbar das Gefühl, er spräche und flirte mit einem Mann. Er mag ja ein Lesb sein, aber auf gar keinen Fall ein Schwul! Doch wie zum Teufel verhält sich eine Frau im Gespräch mit einem Mann? Was interessiert einen Mann? Und ich mache einen Fehler nach dem anderen. Ich frage ihn, was er für ein Auto fährt.
Einen Toyota, sagt er, was einer Katastrophe gleichkommt, denn auch ich fahre einen Toyota, womit ich bei meinem Lieblingsthema angelangt bin.
"Wieviel PS?"
Anschließend gebe ich damit an, dass mein Toyota in der Pannenstatistik des ADAC immer auf Platz 1 steht, so als hätte ich das Fahrzeug selber gebaut. Dabei weiß Costas unter Garantie nichts mit der ADAC-Pannenstatistik anzufangen, was ich wiederum nicht bemerke, schließlich bin ich in meinem Element. Ich entfalte eine Form von subtiler Dominanz und fahre im wahrsten Sinne des Wortes fort:
"210.000 km hat das Teil schon auf dem Buckel. Ist echt der Hammer! Das geht nicht kaputt. Das glaubt mir kein Mensch!"
Costas schaut mich fragend an.
"Nee, ist echt mein Ernst, oder soll ich Erna sagen, weil wir auf Lesbos sind?" Ich schlage mir auf die mittlerweile sorglos gespreizten Schenkel ob meines vermeintlichen Wortwitzes, den er wieder nicht versteht. Rückblickend leuchtet mir das ein, denn auf Englisch lautet der Satz nach meiner auf Halbwissen basierenden Übersetzung:
"That is my Ernst, or shall I say Erna, since we are on Lesbos?"
Unsere Kommunikation fußt auf multikausalen Missverständnissen. Erfahrungsgemäß redet ja nicht nur der Mund; der Körper spricht mit. Von dem Moment an, in dem ich die Beine gespreizt habe, trinke ich schon wieder Bier aus der Flasche. Auch scheint die sprachliche Barriere nicht länger existent zu sein. Ich rede wie die Redakteurin einer englischen Frauenzeitschrift um mein Leben. Oder vielleicht eher wie der Redakteur des englischen Playboys?
Aus tiefster Überzeugung, Männer interessierten sich hauptsächlich für Fußball, frage ich ihn jetzt nach seinem Lieblings-Fußballverein. Als er Athen sagt, zähle ich ihm auf, von welchen deutschen Mannschaften Athen schon geschlagen worden ist, so als ginge es darum, nachträglich nationale Trophäen einzusammeln. Damit wecke ich erheblichen Zweifel an meiner künstlichen Existenz als richtige Frau. Sein Blick wird zunehmend skeptischer. Doch wen wundert das? Mit jedem Wort, das meinem Mund entweicht und mit jeder Geste, die meinem Körper entflieht, vernichte ich das klassische Verständnis von Geschlechtlichkeit und schaffe etwas Neues, Undefinierbares. Gepaart mit dem Versuch, dennoch feminin zu wirken, mutiere ich zu einer Art androgynen Transe, wie mir scheint.
Als ich bei dem Thema Frauen anlange und behaupte, ich stehe auf feste Brüste und geile Ärsche, starrt er mich vollends verwirrt an. Hier halte ich inne und schaue verlegen auf den Boden. Hektisch stecke ich mir eine Zigarette verkehrt herum in den Mund. Costas ist ein Kavalier. Höflich weist er darauf hin. Er räuspert sich und deutet an, dass er mit seinem Griechisch am Ende ist.
Ich versuche, mich mit einem letzten Kalauer aus der Bredouille zu retten, indem ich den Wirt um die Rechnung bitte und frage: "Was Costas?"
Dann täusche ich Übelkeit vor ("I have Migräne.") und stehe schuldbewusst auf. Was sollís? Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut. 20 Jahre lesbische Sozialisation kann ich schließlich nicht an einem Abend ausradieren. Mit möglichst kleinen, femininen Trippelschritten in Turnschuhen entferne ich mich unauffällig von der Bar. Als ich mich außer Sichtweite wähne, stecke ich meine Hände in die Hosentaschen und mache automatisch größere Schritte. Ich will wieder zurück an den Strand zu meinesgleichen. Ich will auch lernen, das Feuer zu ficken. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, denn eine Lesbe ist eine Lesbe ist eine Lesbe, wie uns Gertrude Stein vermutlich durch die Blume zu verstehen geben wollte.

Diana Knezevic
(Das Buch "Sündhafte Episoden" mit weiteren satirischen und erotischen Kurzgeschichten der Autorin Diana Knezevic erscheint im Herbst 2000 im
El!es-Verlag.)

(1) Statt im Telefonbuch nachzusehen, wo die Gebär-Mütter heute wohnen.
(2) Liegt Griechenland am Mittelmeer? Wir wissen es nicht. Ich glaube, Lesbos liegt an der Ägäis, aber daraus ergibt sich keine Alliteration mit Mösenmafia. Die Mösenmafia, dies noch einmal zur Erläuterung, ist ein Verband gleichgesinnter lesbischer Frauen, die ein gemeinsames Feindbild entwickeln. Diese Feindbilder können unterschiedlichen Ursprungs sein. Ich bin zum Beispiel immer das Opfer der Mösenmafia, die sich rund um meine jeweilige Ex-Freundin versammelt. Die Mitglieder gucken mich dann böse an und manchmal rempeln sie auch.
 
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