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Angelika Levi
Spurensuche
Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit dem deutschen Genozid an den
europäischen Juden vergangen. Die dramatischen Ereignisse der Kriegsjahre löschten
ganze Familien aus, rissen Angehörige auseinander und entwurzelten zahllose
Menschen. Das in dieser Zeit Erlebte hinterließ tiefe Spuren in den Familienbiografien
der Nachkriegszeit, währenddessen sich die Gesellschaft der neu entstandenen
Bundesrepublik noch Jahrzehnte später im kollektiven Schweigen und Verdrängen
übte.
Die Berliner Filmemacherin Angelika Levi begibt sich in ihrem ersten abendfüllenden
Dokumentarfilm auf eine Spurensuche der besonderen Art: In den 70er Jahren zeichnete
ihre Mutter Ursula ó Tochter einer "arischen" Mutter und eines jüdischen
Vaters - Erlebnisberichte aus der Nazizeit für ihre Kinder auf Audiokassetten
auf. Unter zu Hilfenahme dieser Tondokumente und anhand des umfangreichen persönlichen
Archivs ihrer Mutter zeichnet sie deren Lebensweg nach und erkundet zugleich die
Geschichte ihrer Familie.
Angelika Levis Mutter Ursula überlebte als Kind zusammen mit Mutter und Bruder
die Verfolgungen der Nazizeit in Hamburg. Der Vater war den 30er Jahren nach Chile
emigriert, erst nach einer fast zehnjährigen Trennung konnte ihm seine Familie
dorthin folgen. Ursula Levi studierte Biologie und Botanik, forschte über die
Anpassungsfähigkeit von Pflanzen und wurde die erste Ökologin Chiles. 1957
ging sie nach Deutschland zurück, verliebte sich in einen evangelischen Theologen,
heiratete ihn ó gleichsam als Akt der "Versöhnung" - und blieb. Die
Brüche und Vorbehalte im Leben ihrer Mutter als deutsche Pfarrersfrau mit einer
jüdischen Identität thematisiert Angelika Levi ebenso wie die Bewältigungs-
und Aufarbeitungsstrategien, die für Ursula Levi im kontinuierlichen Sammeln,
Archivieren, Katalogisieren und Reproduzieren von persönlicher Geschichte bestand.
Dieses Vermächtnis der Mutter hat die Filmemacherin weitergeführt und zu
einer filmischen Collage verschmolzen.
Im Laufe der siebenjährigen Entstehungszeit der Dokumentation wurde
die Erforschung des Schicksals der Mutter - die zu Beginn der Dreharbeiten 1996 starb
- zu einem Weg der Erkenntnis über die eigenen Person: die Erkundung der eigenen
Geschichte, der Tradierung von Traumata und kultureller Identität innerhalb
der Familie, der Selbstfindung in Reaktion auf familiäre Strukturen. Angelika
Levis präsentiert ihr Fazit quasi im Vorbeigehen, in einer kurzen aber prägnanten
Sequenz im hinteren Filmdrittel: "Bin ich die Antwort von meiner Mutter an die
Shoa? War das freiwillige, evolutionstüchtige Anpassen, die Familiengründung
mit meinem Vater ihre Antwort? Bin ich nicht auch die Antwort meines Vaters an die
Shoa, mit einem sentimentalen Versöhnungswunsch, aber blind gegenüber den
konkreten Folgen von unterschiedlicher Geschichte? Ich beschloss, meine Antwort wird
keine biologische sein. Die meines Bruders war es auch nicht. Wir wurden hervorragend
als Junge und Mädchen geplant ... und sind beide heute schwul und lesbisch,
ohne Kinderwunsch."
Die Fundstücke aus dem Familienalbum, die ihre eigene Existenz im Lebenslauf
der Mutter dokumentieren, sind nur ein Bruchteil der Materialfülle, aus der
die Filmemacherin ihre filmisch-essayistische Collage zusammengetragen hat. Die Super-8-Filmschnipsel
mit familiären Urlaubs- und Gartenszenen aus den 70er Jahren reihen sich wunderbar
in den Reigen der Bilder aus alten Fotografien, Tagebucheinträgen, Pflanzenskizzen,
handschriftlichen Notizen und Videointerviews mit Familienmitgliedern oder Außenstehenden.
Dieses kaleidoskopartige Nebeneinander von Dingen ist unterlegt mit den Erzählungen
der Mutter, der Großmutter, des Vaters - ohne dass sich Ton und Bild unmittelbar
aufeinander beziehen. Oft erzählen die gezeigten Gegenstände ihre eigene
Geschichte, und das Bild kommt ganz ohne Ton aus. Dabei lässt der sehr langsame
Rhythmus der Bildfolge der BetrachterIn viel Zeit, das Gesehene zu verarbeiten und
zu sortieren.
Die kommentierende Stimme der Filmemacherin reiht sich dabei unaufgeregt, mit einer
ganz eigenen Abgeklärtheit und frei von jeder Vorwurfshaltung, ein in den Kanon
der erzählenden Stimmen von Familienmitgliedern und Zeitzeugen. Nicht zuletzt
dadurch bleibt der Film frei von aufgesetztem Pathos, dennoch immer dem Schmerz angemessen,
der vielen der aufgegriffenen Themen innewohnt: Shoa, Emigration, Konfrontation mit
der "Tätergeneration", Krankheit, Entfremdung. Diese leise Stärke
der Darstellung korrespondiert mit der unaufdringlichen Stärke der Protagonistin,
deren Lebensgeschichte ihr Vermächtnis an die Tochter ist.
Angelika Levi, die seit
1992 den jüdischen Mädchennamen der Mutter als Künstlerinnen-Namen
führt, wurde 1961 in Bonn/Bad Godesberg geboren. Sie studierte an der Deutschen
Film- und Fernsehakademie in Berlin, wo sie auch heute noch lebt und als Cutterin
arbeitet. Seit 1984 führt sie Regie bei eigenen Filmprojekten. "Mein Leben
Teil 2" ist ihr erster längerer Film und hatte seine erfolgreiche Premiere
in der Sektion "Internationales Forum" der diesjährigen Berlinale.
Das ZDF sendet die Dokumentation in der Reihe "Kämpferinnen" im Rahmen
des "Kleinen Fernsehspiels" im Mai.
Anne-K. Jung
Angelika
Levi: "Mein Leben Teil 2" (Deutschland 2003, 90 min.)
Ausstrahlungstermin: Montag, 12. Mai, 0.10 Uhr, ZDF |
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