Der besondere TV-Tipp im Mai  
 

Montag, 12. Mai, 0.10 Uhr, ZDF  
    Angelika Levi: "Mein Leben Teil 2"
(Deutschland 2003, 90 min.)
 
 

 

Angelika Levi
Spurensuche

Ursula Levi in den 50er Jahren ­ die erste Ökologin Chiles, Copyright: ZDF/Angelika LeviMehr als ein halbes Jahrhundert ist seit dem deutschen Genozid an den europäischen Juden vergangen. Die dramatischen Ereignisse der Kriegsjahre löschten ganze Familien aus, rissen Angehörige auseinander und entwurzelten zahllose Menschen. Das in dieser Zeit Erlebte hinterließ tiefe Spuren in den Familienbiografien der Nachkriegszeit, währenddessen sich die Gesellschaft der neu entstandenen Bundesrepublik noch Jahrzehnte später im kollektiven Schweigen und Verdrängen übte.
Die Berliner Filmemacherin Angelika Levi begibt sich in ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm auf eine Spurensuche der besonderen Art: In den 70er Jahren zeichnete ihre Mutter Ursula ó Tochter einer "arischen" Mutter und eines jüdischen Vaters - Erlebnisberichte aus der Nazizeit für ihre Kinder auf Audiokassetten auf. Unter zu Hilfenahme dieser Tondokumente und anhand des umfangreichen persönlichen Archivs ihrer Mutter zeichnet sie deren Lebensweg nach und erkundet zugleich die Geschichte ihrer Familie.
Angelika Levis Mutter Ursula überlebte als Kind zusammen mit Mutter und Bruder die Verfolgungen der Nazizeit in Hamburg. Der Vater war den 30er Jahren nach Chile emigriert, erst nach einer fast zehnjährigen Trennung konnte ihm seine Familie dorthin folgen. Ursula Levi studierte Biologie und Botanik, forschte über die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen und wurde die erste Ökologin Chiles. 1957 ging sie nach Deutschland zurück, verliebte sich in einen evangelischen Theologen, heiratete ihn ó gleichsam als Akt der "Versöhnung" - und blieb. Die Brüche und Vorbehalte im Leben ihrer Mutter als deutsche Pfarrersfrau mit einer jüdischen Identität thematisiert Angelika Levi ebenso wie die Bewältigungs- und Aufarbeitungsstrategien, die für Ursula Levi im kontinuierlichen Sammeln, Archivieren, Katalogisieren und Reproduzieren von persönlicher Geschichte bestand. Dieses Vermächtnis der Mutter hat die Filmemacherin weitergeführt und zu einer filmischen Collage verschmolzen.
Die Dinge kommen gewandelt zurück: ein Aschenbechersieb aus gelben Davidsternen, Chile, Copyright: ZDF/Angelika LeviIm Laufe der siebenjährigen Entstehungszeit der Dokumentation wurde die Erforschung des Schicksals der Mutter - die zu Beginn der Dreharbeiten 1996 starb - zu einem Weg der Erkenntnis über die eigenen Person: die Erkundung der eigenen Geschichte, der Tradierung von Traumata und kultureller Identität innerhalb der Familie, der Selbstfindung in Reaktion auf familiäre Strukturen. Angelika Levis präsentiert ihr Fazit quasi im Vorbeigehen, in einer kurzen aber prägnanten Sequenz im hinteren Filmdrittel: "Bin ich die Antwort von meiner Mutter an die Shoa? War das freiwillige, evolutionstüchtige Anpassen, die Familiengründung mit meinem Vater ihre Antwort? Bin ich nicht auch die Antwort meines Vaters an die Shoa, mit einem sentimentalen Versöhnungswunsch, aber blind gegenüber den konkreten Folgen von unterschiedlicher Geschichte? Ich beschloss, meine Antwort wird keine biologische sein. Die meines Bruders war es auch nicht. Wir wurden hervorragend als Junge und Mädchen geplant ... und sind beide heute schwul und lesbisch, ohne Kinderwunsch."
Die Fundstücke aus dem Familienalbum, die ihre eigene Existenz im Lebenslauf der Mutter dokumentieren, sind nur ein Bruchteil der Materialfülle, aus der die Filmemacherin ihre filmisch-essayistische Collage zusammengetragen hat. Die Super-8-Filmschnipsel mit familiären Urlaubs- und Gartenszenen aus den 70er Jahren reihen sich wunderbar in den Reigen der Bilder aus alten Fotografien, Tagebucheinträgen, Pflanzenskizzen, handschriftlichen Notizen und Videointerviews mit Familienmitgliedern oder Außenstehenden. Dieses kaleidoskopartige Nebeneinander von Dingen ist unterlegt mit den Erzählungen der Mutter, der Großmutter, des Vaters - ohne dass sich Ton und Bild unmittelbar aufeinander beziehen. Oft erzählen die gezeigten Gegenstände ihre eigene Geschichte, und das Bild kommt ganz ohne Ton aus. Dabei lässt der sehr langsame Rhythmus der Bildfolge der BetrachterIn viel Zeit, das Gesehene zu verarbeiten und zu sortieren.
Die kommentierende Stimme der Filmemacherin reiht sich dabei unaufgeregt, mit einer ganz eigenen Abgeklärtheit und frei von jeder Vorwurfshaltung, ein in den Kanon der erzählenden Stimmen von Familienmitgliedern und Zeitzeugen. Nicht zuletzt dadurch bleibt der Film frei von aufgesetztem Pathos, dennoch immer dem Schmerz angemessen, der vielen der aufgegriffenen Themen innewohnt: Shoa, Emigration, Konfrontation mit der "Tätergeneration", Krankheit, Entfremdung. Diese leise Stärke der Darstellung korrespondiert mit der unaufdringlichen Stärke der Protagonistin, deren Lebensgeschichte ihr Vermächtnis an die Tochter ist.

Angelika Levi, Copyright: ZDF/Angelika LeviAngelika Levi, die seit 1992 den jüdischen Mädchennamen der Mutter als Künstlerinnen-Namen führt, wurde 1961 in Bonn/Bad Godesberg geboren. Sie studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, wo sie auch heute noch lebt und als Cutterin arbeitet. Seit 1984 führt sie Regie bei eigenen Filmprojekten. "Mein Leben Teil 2" ist ihr erster längerer Film und hatte seine erfolgreiche Premiere in der Sektion "Internationales Forum" der diesjährigen Berlinale. Das ZDF sendet die Dokumentation in der Reihe "Kämpferinnen" im Rahmen des "Kleinen Fernsehspiels" im Mai.

Anne-K. Jung


Angelika Levi: "Mein Leben Teil 2" (Deutschland 2003, 90 min.)
Ausstrahlungstermin: Montag, 12. Mai, 0.10 Uhr, ZDF
 
 

 

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Text: Anne K. Jung
© 2003: lespress-Verlag, Dyroffstr. 12, 53113 Bonn