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Die Schriftstellerin
Vita Sackville-West schuf sich mit dem Garten des Schlosses Sissinghurst in Kent
ein Denkmal, das jedes Jahr Tausende von BesucherInnen anzieht - und auch für
viele Lesben eine Art Pilgerstätte wurde...
Denn durch ihre Briefe ist ihr unkonventionelles Privatleben sehr gut dokumentiert
- und insbesondere ihre fast 20 Jahre lange Freundschaft mit der Schriftstellerin
Virginia Woolf ließ Vita Sackville-West zu einer "lesbischen Ikone"
werden.
Heckenrosen, Lilien und Lavendelbüsche, überwucherte Backsteinmauern, ein
Schloßgraben, ein Obstgarten mit hunderten Narzissen - und mittendrin ein rosaroter
Turm, von dem aus man den Garten und die Umgebung überblicken kann: so präsentiert
sich das Schloß Sissinghurst heute und ist auch ohne großes Vorwissen
einen Besuch wert. Doch vor allem seine Geschichte - oder besser: die seiner Besitzerin
Vita Sackville-West - läßt einen Spaziergang durch den Garten zu einer
beeindruckenden Reise in die Vergangenheit werden.
Die Schriftstellerin Vita Sackville - West sah das Schloß Sissinghurst in Kent
1930 zum ersten Mal und verliebte sich sofort. Obwohl die Gebäude, die aus dem
15. Jahrhundert stammen, völlig verwahrlost waren, erwarb Sackville - West das
Schloß, ließ es renovieren und zog 1932 mit ihrem Ehemann Harold Nicolson
und ihren beiden Söhnen ein. In den 30 Jahren, die sie bis zu ihrem Tod dort
lebte, schuf sie rund um die Gebäude einen einzigartigen Garten, der zu den
schönsten von ganz England gezählt wird.
Vita Sackville-West sah in dem Schloß Sissinghurst einen Ersatz für den
Familiensitz Knole, ein Schloß mit 365 Zimmern, das sie als Frau nicht erben
konnte. Den Verlust dieses Familienerbes 1928 konnte sie als traditionsbewußte
Aristokratin nie völlig verarbeiten. Doch in Sissinghurst fand sie einen Ort,
wohin sie sich zurückziehen konnte und nach einem sehr bewegten Liebesleben
zur Ruhe kam.
Die Schriftstellerin Vita Sackville - West war das einzige Kind von Lord Lionel und
Victoria Sackville - West, einer sehr egozentrischen Frau, zu der Vita ihr Leben
lang eine sehr zwiespältige Beziehung hatte. In dem geschichtsträchtigen
Schloß Knole aufgewachsen, schrieb Vita bereits mit 14 Jahren Romane und Balladen
über ihre Vorfahren.
1913 heiratete sie mit 21 Jahren den Diplomaten und Politiker Harold Nicolson, weigerte
sich aber zeitlebens, sich "Mrs. Harold Nicolson" zu nennen. Nach einem
halben Jahr in Konstantinopel, wo Harold Nicolson Botschaftssekretär war, lebten
sie einige Jahre lang eine relativ konventionelle Ehe. Harold war wegen seiner Karriere
häufig in London und Vita blieb mit ihren beiden Söhnen Ben und Nigel zu
Hause.
Vita Sackville - West erfuhr 1917 von Harolds homosexuellen Affairen und gestand
sich dadurch auch selbst ihre Leidenschaft für Frauen ein. Schon seit ihrer
Schulzeit hatte sie sehr intensive Frauenfreundschaften, aber erst jetzt ließ
sie sich auf eine sexuelle Beziehung mit einer ihrer früheren Schulkolleginnen
ein. Die drei Jahre dauernde leidenschaftliche Beziehung zu Violet Trefusis (geborene
Keppel) endete jedoch dramatisch. 1920 waren die beiden Frauen gemeinsam nach Frankreich
"ausgerissen", jedoch von ihren Ehemännern per Privatflugzeug eingeholt
und zur Rückkehr bewogen worden.
Nach einer weiteren Reise nach Frankreich 1921 drohte Violets Ehemann mit der Scheidung.
Um einen Skandal zu vermeiden, wurde Violet von ihrer Mutter nach Holland geschickt.
Nach diesen dramatischen Erlebnissen vermied Vita Sackville - West bis 1941 jeden
weiteren Kontakt zu Violet, um nicht wieder dazu verführt zu werden, "mit
dem Feuer zu spielen"...
Das Dilemma zwischen ihrer heftigen Affaire mit Violet und ihrer Liebe zu Harold
beschrieb Vita in dem Roman "Die Herausforderung", in dem sie sich in der
Person des Julian beschrieb. Obwohl sie auch weiterhin neben ihrer Ehe immer wieder
Affairen und langjährige Beziehungen zu (zum Teil verheirateten) Frauen lebte,
wurde ihre Ehe nach dieser ersten Zerreißprobe nie wieder in frage gestellt:
denn Vita brauchte die Sicherheit und Geborgenheit mit Harold, gleichzeitig aber
auch ihre Eroberungen und die Anerkennung von Frauen, die ihr oftmals jahrelang treu
ergeben waren. Harold akzeptierte Vitas Affairen, solange sie nicht zu viel "Wirr-Warr"
mit eifersüchtigen Ehemännern und verletzten Geliebten herbeiführten.
Denn er selbst konnte so auch seine Liebesbeziehungen zu Männern ungestört
weiterführen. Trotz diesem unkonventionellen Leben wurden die Nicolsons für
ihre Söhne und viele andere das "ideale Ehepaar", da sie sich durch
ihre große Liebe zueinander sehr bestärkten. Diese kommt insbesondere
in ihren Tagebüchern und den Briefen zum Ausdruck, die sie sich zeitweise täglich
schrieben.
1922 lernte Vita Virginia Woolf kennen, mit der sie bis zu deren Tod 1941 befreundet
blieb. Während Vita sie als erfolgreiche Schriftstellerin und Intellektuelle
bewunderte, war Virginia von Vitas Charakter und Stärke fasziniert:
"Ich mag sie & das Zusammensein mit ihr & den Glanz - sie verbreitet
ein Strahlen von brennenden Kerzen, wenn sie beim Krämer von Sevenoaks daherschreitet
auf Beinen wie Buchen, rosaglühend, klunker- und perlenbehangen. Das ist das
Geheimnis ihres Zaubers, vermute ich.... Da ist ihre Reife & Vollbusigkeit: wie
sie so mit vollen Segeln auf hoher See kreuzt, während ich auf Nebengewässern
dahindümple(...) und überschüttet mich also mit der mütterlichen
Zuwendung, die (...) das ist, was ich mir immer am meisten von jedem gewünscht
habe."
Virginia Woolf, Tagebuch, 1925
Die Liebesbeziehung und Freundschaft dieser so unterschiedlichen Frauen sind durch
ihren intensiven Briefwechsel sehr gut dokumentiert. Auch auf literarischem Gebiet
war ihr Austausch äußerst anregend.
In "Orlando", einer fiktiven Biographie, beschrieb Virginia Woolf 1928
Vitas Leben in beeindruckenden Bildern: das Wesen "Orlando", das in mehreren
Jahrhunderten lebt, verwandelt sich im Laufe der Geschichte von einem jungen Mann
in eine Frau. Fotografien in dem Buch verwiesen deutlich darauf, daß Vita Sackville
- West die "Vorlage" zu Orlando war. Vita war geschmeichelt von der Genauigkeit,
mit der Virginia ihren Charakter - zum Teil liebevoll und zum Teil auch zynisch -
skizzierte und ihr am Ende symbolisch das Familienerbe Knole zurückgab. Vitas
Sohn Nigel
bezeichnete "Orlando" später als den "längsten und bezauberndsten
Liebesbrief der Literatur".
Während zur gleichen Zeit Radclyffe Halls offen lesbischer Roman "Quell
der Einsamkeit" der Zensur zum Opfer fiel, war "Orlando" durch seine
bildhafte Sprache ein großer Erfolg - und wurde zu einem "Bestseller"
der Hogarth Press, Virginia und Leonard Woolfs Verlag. In den Roman fließen
nicht nur Vitas vielfältigen Affairen dieser Zeit mitein, sondern auch ihr Ehrgeiz
bezüglich ihrer Schriftstellerei und ihre Reiseerfahrungen. Harold Nicolson
hatte 1926 eine Stelle im diplomatischen Dienst in Teheran angenommen. Vita, die
sich weigerte, als Diplomatengattin mitzukommen, besuchte Harold zwei Mal in Persien,
wobei sie einmal über Indien und einmal über Ägypten reiste. Ihre
Berichte über diese Reisen vermitteln interessante Einblicke in das englische
Kolonialleben zu dieser Zeit.
"Eine müde Schwimmerin im Meer der Ewigkeit
Laß ich die Wellen über mir zusammenschlagen:
Sink durch Jahrhunderte in eine andre Zeit
und finde Schloß und Rose, die dort begraben lagen."
(Vita Sackville-West, "Sissinghurst", Gedicht, 1930)
1930 fand Vita Sackville - West das Anwesen in Sissinghurst. Obwohl die Reste des
ehemaligen Schlosses nicht bewohnbar waren und weder Strom- noch Wasseranschluß
hatten, sah Vita hinter den "Unmengen alter Bettgestelle, Pflugscharen, alten
Kohlstrünken, zusammengefallenen Trockenklosetts, Drahtknäuel und Bergen
von Sardinenbüchsen..." schon am ersten Tag, "was daraus zu machen
war: Es war das Schloß von Dornröschen."
Bereits eine Woche später hatte sie das Anwesen gekauft und ihre erste Pflanze
im verwahrlosten Garten eingesetzt: einen Lavendelbusch. In dem viereckigen Turm
aus Backstein, der in der Mitte des Gartens liegt, wurde Vitas Schreibzimmer eingerichtet.
Im "Priest's House" waren Küche und Eßzimmer sowie die Zimmer
für die beiden Söhne, im "South Cottage", das etwas weiter entfernt
lag, die beiden Schlafzimmer von Harold und Vita sowie Harolds Wohnzimmer. Harold
bemerkte, "daß wir, wenn wir alt sind, sterben werden, wenn wir jedesmal
zwischen den Malzeiten eine Landpartie machen müssen. Und das bei Nacht."
Die
ungewöhnliche Anordnung der Zimmer in unterschiedlichen Gebäuden bringt
den losen Zusammenhang der Familie zum Ausdruck: Harold war mittlerweile als Politiker
und Literaturkritiker in London tätig und kam nur am Wochenende nach Hause,
und die beiden Söhne waren meist im Internat. Später wurde zwar noch ein
gemeinsames Wohnzimmer im ehemaligen Stall errichtet, doch die Familie fühlte
sich darin nie wohl und benutzte es nur selten.
Vita war in ihrem Dornröschenschloß sehr glücklich. Hier zog sie
sich immer mehr von gesellschaftlichen Verpflichtungen zurück und widmete sich
tagelang nur ihren Büchern - und dem Garten. Dieser bestand aus unterschiedlichen
Bereichen, die in den folgenden 30 Jahren immer weiter umgestaltet wurden.
Jeder Bereich - der Obstgarten, der Kräutergarten, der Rosengarten und der weiße
Garten - erhielten eigene Atmosphären. Ihre Gestaltung, eine Kombination aus
Harolds klassischem Grundkonzept und Vitas "romantischen" Pflanzungen,
wurde schon 1938 als "Sissinghurst - Stil" nachgeahmt.
Während Harold klare Linien der Wege, Hecken und Beete vorzog, bestand Vita
darauf, diese durch überhängende Heckenrosen, Massen an gleichen Blumen
und ungewöhnliche Pflanzenkombinationen zu brechen. 1938 wurde der Garten zum
ersten Mal für ein Wochenende öffentlich zugänglich gemacht - und
schon 1939 kamen an diesen beiden Tagen über 800 Besucher!
Abgesehen vom regen Austausch mit Gartenliebhabern wurde Vitas Leben in Sissinghurst
generell ruhiger. Sie verfaßte historische Romane, eine Biografie von Jeanne
d'Arc sowie ihrer Großmutter Pepita, einer spanischen Tänzerin, hielt
Vorträge und Lesungen und führte im Radio Streitgespräche mit Harold
über die Ehe. Nach ihren leidenschaftlichen Affairen lebte sie nun langjährige,
intensive Freundschaften und Liebesbeziehungen, so zu Harolds Schwester Gwen, die
von 1933 bis 1942 in der Nähe wohnte, oder zu ihrer Sekretärin Mac.
Der Weltkrieg brachte einschneidende Veränderungen nach Sissinghurst. Der Wohnraum
wurde zu einem gasdichten Schutzraum umfunktioniert, deutsche Bomber flogen genau
über dem Schloß nach London und Vitas Söhne wurden beide eingezogen.
Vita war verängstigt und depressiv und begann zu trinken.
In den Nachkriegsjahren widmete sich Vita Sackville - West wieder stärker ihrem
Garten, den sie in dem Gedicht "The Garden" verewigte. Neben ihrer wöchentlichen
Kolumne über das Gärtnern in einer Tageszeitung veröffentlichte Vita
einige Bücher und erhielt eine Medaille für ihre Gartenkunst. 1952 kam
sogar die Königinmutter, Elisabeth I., auf Besuch nach Sissinghurst.
Die letzten
Jahre waren von Vita Sackville - Wests Arthritis und ihrer Angst um Harolds Gesundheit
geprägt, aber ebenso von neuer Lebensfreude:
1955 kaufte sie sich ein neues Auto, einen Jaguar, und verliebte sich neu. Ende der
50-er Jahre unternahmen Harold und sie mehrere Kreuzfahrten nach Indonesien, Südamerika
und Südafrika. Auf der Karibikkreuzfahrt 1962 erkrankte Vita schwer und starb
im Juni - umsorgt von Harold, ihrer Sekretärin und ihrer langjährigen Freundin
Edith Lamont - in Sissinghurst an Krebs.
Seit dem Tod von Harold Nicolson 1968 wird der zeitlos wirkende Garten vom National
Trust verwaltet. Das Arbeitszimmer von Vita Sackville - West im Turm ist bis heute
unverändert geblieben: die Möbel und vergilbten Gobelins stammen noch aus
den 30-er Jahren und auf dem Schreibtisch steht Virginia Woolfs Porträt neben
frischen Blumen aus dem Garten. In einer Schatulle fand Vitas Sohn Nigel ein unveröffentlichtes
Manuskript von 1920, in dem Vita ihreLiebesbeziehung mit Violet Trefusis beschrieb,
und publizierte es in der Biografie seiner Eltern "Porträt einer Ehe"
1972. Durch die vielen Briefe von Vita, ihre Tagebücher und ihre Literatur wurde
Vita Sackville - Wests interessanter Charakter und ihr ungewöhnliches Leben
auf beeindruckende Weise dargestellt.
Wenn Sie heutzutage durch den verträumt wirkenden Garten rund um das Schloß
spazieren, können Sie auch als "gardening"- Laie die Liebe Vita Sackville-Wests
zu Sissinghurst leicht nachvollziehen.
Und falls Sie sich von diesem Ort nicht losreißen können, ist eine Übernachtung
in dem anliegenden farmhouse zu empfehlen, dessen Zimmer von Laura Ashley mit Tausenden
von Blümchen verziert wurden....
Text & Photos: Michaela Göltl
Informationen:
Sissinghurst: bei Cranbrook, Kent, eine Autostunde südlich von London,
Garten geöffnet von April bis Oktober, National Trust Tel: 01580-712850
Bed & Breakfast Tel: 01580-712885
Literatur über Vita Sackville - West:
Nigel Nicolson: "Porträt einer Ehe", 1974
James Lees - Milne: "Harold Nicolson", Biografie, 1980
Victoria Glendinning: "Vita Sackville - West - Eine
Biografie", 1983
Susanne Amrain: "So geheim und vertraut, Virginia Woolf und Vita
Sackville-West", 1994
Louise DeSalvo, Mitchell A . Leaska(Hrsg): "Geliebtes Wesen...",
Briefe von Vita Sackville - West an Virginia Woolf, 1995
Mitchell A.Leaska (Hrsg): "Trunken von Deiner Schönheit", Violet
Trefusis an Vita Sackville - West, 1993
Virginia Woolf: "Orlando - eine Biografie", 1928, deutsch 1964
Einige Romane von Vita Sackville - West:
"Challenge", 1923, "Die Herausforderung", 1992
"The Edwardians" 1930, deutsch: "Schloß Chevron",
1985
"Pepita", 1937, deutsch: "Pepita, Die Tänzerin und die
Lady", 1984
"Passenger to Teheran", 1926, deutsch: "Eine Frau
unterwegs nach Teheran", 1993
Interessante Seiten im Internet:
www.members.nbci.com/rupamede: Biografie von Vita
Sackville-West und Aufnahmen, guestbook
www.invectis.co.uk/sissing/: Fotodokumentation
des Gartens zu allen Jahreszeiten von Dave Parker
www.ostavisn.com: Fotografien aus Sissinghurst
von Lisa Osta
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