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Am
6.6.1996 kam in Dortmund der 47jährige Erich W. durch vier tödliche Messerstiche
ums Leben. Die stadtbekannte Lesbe Mareike V. steht wegen der Tat vor Gericht. Sie
schweigt und macht von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Durch ihren Verteidiger
gibt sie kund, sie habe den Mann aus Notwehr getötet. Der STERN spekuliert am
17. Februar 2000, Männerhass sei das Motiv. Noch am Erscheinungstag des Blattes,
das von Leichenbildern lebt, steht im Ruhrgebiet kein lesbisches Telefon mehr still.
RTL und Sat 1 sind hinter einer heißen Story her. Die privaten Fernsehsender
wollen blitzschnell und explosiv über den Fall berichten. Doch was wirklich
in der Nacht geschah, als Erich W. ums Leben kam, hat mit Männerhass wenig zu
tun. Langsam kommt in dem Gerichtsprozess die Wahrheit ans Licht. Zeuginnen sprechen
von einer Angeklagten, die "Blut sehen will".
Es dauert über zwei Jahre, bis die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Man räumt
ein, "geschlampt" zu haben. Und das, obwohl sich die Ermittlungsakte wie
ein schlechter Krimi liest, in dem sich eine Ungereimtheit an die andere reiht.
Am Abend des 6. Junis 1996 besucht Mareike V. mit ihrer 20jährigen Cousine Yvonne
W. die Dortmunder Gaststätte "Bürgermeister Lindemann". Im Biergarten
machen die beiden Frauen die Bekanntschaft mit Erich W. Als sie die Kneipe gemeinsam
verlassen, um in die Wohnung der Angeklagten zu gehen, ist es 21.50 Uhr. Um 22.10
Uhr ist Erich W. laut Gutachten der Gerichtsmedizin tot. 20 geheimnisvolle Minuten
liegen dazwischen.
Bislang musste das Gericht den Aussagen der an der Tat beteiligten Frauen glauben.
Demnach war die Angeklagte kurz mit ihrem Hund spazieren. Bei ihrer Rückkehr
will sie gesehen haben, wie Erich W. die Cousine mit einer Schere in der Hand bedroht.
Um sie zu retten, habe Mareike V. nach einem Messer gegriffen und auf den Mann eingestochen.
Viermal in die Kehle, eine Stichverletzung durchtrennt den Halswirbel. Mareike V.
ruft die Polizei. Trotz eines Promillegehalts von 2,9 spricht sie besonnen und ruhig.
Das Tonband des Notrufs dokumentiert dies eindrucksvoll. Hauptkommissar Pewny von
der Dortmunder Mordkommission findet die Cousine bei seinem Eintreffen zusammengekauert
auf der Toilettenschüssel. Die Leiche des 47jährigen Erich W. liegt im
Wohnzimmer auf dem Teppich. Um seinen Kopf hat sich eine große Blutlache gebildet.
Der Reissverschluss seiner Hose ist geöffnet. In der rechten Hand liegt eine
Schere, die er mit Daumen und Mittelfinger hält. Erich W. war Linkshänder.
Erst im Sommer 1999 kommt es zum Prozess. Die Anklage lautet auf Totschlag bei verminderter
Schuldfähigkeit. Da keine Fluchtgefahr besteht, wird keine Untersuchungshaft
beantragt. Die Lokalpresse schreibt von einer "geheimnisvollen Mareike V.",
die auch laut Gutachterin einen gefassten Eindruck hinterlässt. Die 31jährige
Frau hatte einen gewalttätigen Vater. Ihr Studium bricht sie ab. Eine Nachbarin
bezeichnet sie als "ruhig und freundlich". Der offizielle Werdegang und
das psychologische Gutachten weisen ansonsten keine Besonderheiten auf. Doch wer
sie kennt, zeichnet ein Bild von Mareike V., das zwischen Genialität und Wahnsinn
angesiedelt ist.
Alfons Becker, der Anwalt der Nebenklägerin Frau W., behauptet: "Jeder
Angeklagte, der über eine rote Ampel fährt, ist bei der Verhandlung nervöser
als Mareike V." Es gibt keine Zeugen, die etwas über die Persönlichkeit
der Angeklagten sagen. Auch die Cousine schweigt. Sie macht bei der Vernehmung unter
sichtlicher Anspannung lediglich Angaben zu ihrer Person und lässt durch ihren
Anwalt die Nothilfe-Version bestätigen.
Kurz vor der Urteilsverkündung meldet sich eine Zeugin, die aus der Presse von
dem Prozess erfahren hat. Richter Eikelmann unterbricht das Verfahren auf der Stelle
und ordnet eine neue Beweisaufnahme an.
Die Zeugin Sabine M.* nennt im Zuge ihrer Vernehmung weitere Frauen aus der Lesbenszene,
die etwas über Mareike V. sagen können. Ihre Aussagen sind fast identisch.
Die Angeklagte sei unter Alkoholeinfluss "unberechenbar und aggressiv".
Sie sei nahezu "schizophren" und würde als sehr "dominant und
kontrollierend" empfunden. In vielen kleinen Geschichten wird deutlich, daß
Mareike V. eine "tickende Zeitbombe" zu sein scheint. Sie habe einer Frau
den Kiefer gebrochen, einer anderen die Nase. Zweimal will eine Zeugin gehört
haben, wie Mareike V. ohne einen erkennbaren Kontext gemurmelt hat: "Ich will
Blut sehen!" Sie hätte ausgeprägte Gewaltphantasien und drohte gerne
mit ihrem "schwarzen Gurt" in verschiedenen Kampfsportarten. Ihr Lebensmotto
lautet: "Und wen ich nicht besiegen kann, den mach ich mir zum Freund."
Ihr einziger Freund ist der Strafverteidiger Peter Schwarzhoff, der als Ruhrgebiets-Bossi
gehandelt wird. Über ihn sagt sie einer Bekannten: "Der holt mich da schon
wieder raus. Der hat neulich einem Mandanten geholfen, der einen Mann mit der Axt
getötet hat." Und weiter: "Schwarzhoff rät, ich solle mich vor
Gericht als Bisexuelle darstellen, damit man mir keinen Männerhass unterstellen
kann. Du weißt ja, wie schwer Lesben es vor Gericht haben."
Der Prozess wird am 9. Februar 2000 erneut aufgenommen. Je mehr Frauen in den Zeugenstand
treten, desto dünner wird die Fassade der Angeklagten. Es kommen Zweifel an
der Notwehr-Version auf. Im Zuge der Vernehmungen meldet sich eine weitere Frau mit
einer anderen Beschreibung der Tat. Bettina G. will von der Angeklagten gehört
haben, wie es wirklich war. Mareike V. habe Erich W. erstochen, weil sie wissen wollte,
"wie das ist". Die Zeugin gibt an, sie habe sich aus Angst, Mareike könnte
ihr etwas antun, nicht früher gemeldet. Als dann einige Leumundszeugen für
die Angeklagte aussagen, darunter auch ihre langjährige Lebensgefährtin,
drängt sich dem Gericht der Verdacht eines "Bandenkrieges" mit diversen
Aktionsgruppen auf. Mareike V.s Lebensgefährtin droht nun ein Verfahren wegen
Meineids.
Der Schlüssel zur Wahrheit liegt in den Händen der Cousine. Sabine M. und
die Zeugin Ulrike D. beginnen in der Sache zu Çermittelnë. Sie fahren zu Yvonne W.
und reden mit ihr. Aber die schweigt beharrlich. Es wird evident, dass auch sie Angst
hat. "Mareike mag ja 7 oder 10 Jahre kriegen," sagt sie, "aber irgendwann
ist sie wieder frei. Da bleibe ich doch lieber bei der offiziellen Variante."
Als das Schwurgericht erfährt, dass die Mutter der Cousine über die wahre
Tatversion informiert ist, wird sie geladen. Sie bricht das Schweigen, weil sie nicht
länger mit dem Druck leben kann. Ihre Tochter habe ihr am 7.6.1996 erzählt,
was geschehen ist. Im Gerichtssaal wird es still.
In der Wohnung der Angeklagten saßen Erich W. und Yvonne W. am Tisch. Mareike
sei von hinten an Erich W. herangetreten und hätte ihn "betatscht".
Dann ging alles ganz schnell, und Yvonne hätte gar nicht gewusst, "was
da für eine Szene ablief". Erich W. legt sich auf den Boden und Mareike
streichelt ihm mit einer Hand über den Bauch. Sie beugt sich über ihn.
Plötzlich sieht Yvonne, daß Mareike ein Messer in der Hand hält und
sie rennt fluchtartig ins Bad. Kurz darauf kommt Mareike ins Bad und sagt: "Du
musst mir helfen, die Leiche zu beseitigen."
Darauf antwortet Yvonne: ""Das mache ich nicht. Dann musst Du mich auch
umbringen." Mareike V. bedrängt die Cousine, dass sie ihr eben helfen müsse,
der Polizei eine Notwehrgeschichte zu erzählen.
Yvonne sei erschüttert, "völlig fertig" und voller Angst. Die
Mutter stockt: "Meine Tochter ist ein psychisches Wrack."
Fast vier Jahre nach der Tat ergeht ein Haftbefehl gegen Mareike V. wegen Mordes
aus Heimtücke und Mordlust. Nun droht der Angeklagten eine lebenslängliche
Haftstrafe. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. Erst als ihr die Beamten Handschellen
umlegen, wischt sie sich eine Träne von der Wange. Die Zeit bis zur Urteilsverkündung
verbringt sie in Untersuchungshaft.
Die Suche nach einem Motiv war vergeblich. Es gibt kein Motiv. Verteidiger Schwarzhoff
hat das Motiv Männerhass im Prozess konstruiert und aufgeblasen, um es dann
wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Sein Trumpf war ein junger Mann, der mit
Mareike V. ein Verhältnis gehabt haben will. Eine Ex-Freundin berichtet, Mareike
V. sei die intelligenteste Frau, die sie je kennengelernt habe. Doch langsam wird
gewiss, dass es die pure Lust am Töten war. Kein Männerhass. Dazu eine
ehemalige Freundin: "Es hätte jeden treffen können, ob Mann oder Frau.
Mareike ist einfach unberechenbar."
Was für Konsequenzen hat ein solcher Prozess für die Lesbenszene? Warum
haben alle so lange geschwiegen, obwohl viele wussten, dass Mareike V. wegen Totschlags
angeklagt ist? Warum der Deckmantel des Schweigens, wenn doch viele wussten, wie
gefährlich sie ist? Wie hätte das Schwurgericht entschieden, wenn sich
die couragierte Sabine M. nicht in letzter Minute gemeldet hätte? Ist die Angeklagte
vermindert schuldfähig oder tatsächlich eine fast perfekte Mörderin,
eine hochintelligente Frau?
Fest steht, dass viele Frauen Angst vor ihr hatten, sie könnte auf der Arbeitsstelle
anrufen und potentielle Zeuginnen diskreditieren. Mareike V. beherrschte die hohe
Kunst, die Schwächen des Gegenübers auf einen Blick zu erkennen und sie
für sich zu instrumentalisieren. Nüchtern galt sie als sehr amüsant
und gesellig, betrunken sah man ihr einiges nach. Indem sie geschickt eine Notwehr-Situation
erfand, gewann sie Sympathien und Mitleid. Das ging so weit, dass eine Frau keine
Anzeige gegen Mareike erstattete, obwohl sie von der alkoholisierten Angeklagten
geschlagen worden ist. Das war Silvester 1999/ 2000. Also kurz vor der Neuaufnahme
des Verfahrens.
Dazu sagt Sabine M.: "Wenn Lesben sich blind hinter einer feministischen Ideologie
verstecken, dann laufen sie Gefahr, Gewalt in den eigenen Reihen zu tabuisieren.
Für die Presse wäre Männerhass ein gefundenes Fressen, weil es alte
Clichées bedient. In diesem Fall benutzte Mareike das ÇClichéeë von
der Notwehr für sich. Und fast wäre sie damit durchgekommen."
Die Frau des Opfers, Frau W., bedankte sich bei den Zeuginnen. Fast vier Jahre nach
dem Tod ihres Mannes ist sie endlich rehabilitiert. Für Kolleginnen galt sie
als Frau eines Vergewaltigers. Jetzt steht fest: ihr Mann war einfach zur falschen
Zeit am falschen Ort.
Das Urteil wurde am 7. März 2000 verkündet. Mareike V. muss eine Freiheitsstrafe
von 10 Jahren verbüßen. Vor der Urteilsverkündung reicht der Staatsanwalt
den Verfahrensbeteiligten einen Zettel weiter, auf dem notiert ist: "Achtung!
Die Angeklagte fällt in der JVA durch Gewalttätigkeiten gegenüber
ihren Mithäftlingen auf."
Ist Mareike V. nun eine "tickende Zeitbombe" oder ist sie tatsächlich
unschuldig verurteilt, wie die ersten Stimmen unken?
Der Mythos vom Bandenkrieg rivalisierender Zeuginnen aus der Lesbenszene entlarvt
sich jedenfalls als populistische Polemik und als Konstrukt des Strafverteidigers.
Ein Konstrukt wie der Männerhass, ein Konstrukt wie die Notwehr.
* Namen der Zeuginnen geändert
Julia Rösner |
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