Michael Cunningham  
 
Im Januar erschien der neue Roman von Michael Cunningham "Die Stunden".
Während einer Lesereise durch Deutschland stellte der in New York lebende Schriftsteller sein Buch auch in Köln vor. Maria Machnik interviewte ihn vor seiner Lesung im Amerika-Haus.



? Die Stunden ist ein hinreissender Roman. Warum haben Sie ausgerechnet Mrs. Dalloway als "Vorlage" für Ihren Roman gewählt? Das hätte leicht schief gehen können?
! Mrs. Dalloway ist das erste bedeutende Buch, das ich gelesen habe. Damals war ich auf der Highschool. Es war keine besonders gute Highschool. Wobei ich auch kein wirklich guter Student war. Für mich war Literatur damals eine tote Materie. Mir gefielen Musik und andere Dinge. Zur Literatur kam ich erst später, durch eine ältere Studentin. Sie war sehr belesen, las T. S. Elliott und sie war sehr clever. Mrs. Dalloway entdeckte ich ganz zufällig in einer winzig kleinen Buchhandlung. Eigentlich hatten sie dort nichts, doch Mrs. Dalloway hatten sie. Ich begann das Buch zu lesen, ohne die geringste Ahnung, wovon es handelte. Doch irgendwas hat Klick gemacht, die Sätze, die Dichte, die Melodie der Sätze... Ich glaube, für jeden begeisterten Leser gibt es ein solches erstes Buch. Es kann auch ein Kinderbuch sein. Mrs. Dalloway ist das einzige Buch, über das ich einen Roman schreiben wollte. Ich fühle mich fast schon mit dem Buch verheiratet. Ich habe sehr darauf geachtet, keinen Abklatsch zu produzieren.
? Wie lange haben Sie an dem Roman gearbeitet?
! Drei Jahre. Ich schreibe sehr langsam. Und ich weiß nicht, wo ein Buch endet, wenn ich es anfange. Ich will es auch gar nicht wissen. Einer meiner Lieblingsautoren, Flannery OíConnor, hat mal gesagt: "Welche Überraschungen kann es für den Leser geben, wenn es für den Autoren keine gab?". Er hat recht.
? Hatten Sie denn beim Schreiben Überraschungsmomente?
! Ich war überrascht, als am Schluss alle Fäden der Handlung zusammen liefen, auch wenn es natürlich nicht ganz zufällig war. Irgendwann wusste ich, dass das Buch so enden wird.
? Und für welchen Leserkreis schreiben Sie? Ja wohl nicht nur für die Community?
! Nein, das nicht, es ist eine bunte Welt und ich möchte so viel wie möglich darüber schreiben. Manchmal denke ich an Helen, eine ehemalige Kollegin in einer der Bars, in denen ich lange gearbeitet habe. Ihr Mann hatte sie plötzlich verlassen und sie zog ihre vier Kinder alleine auf. Helen hatte den Job in der Bar und einen weiteren in einer Bäckerei. Nach ihrer Arbeit, jeden Abend wenn sie ihre Arbeit gemacht, die Kinder ins Bett gebracht hatte, las sie eine Stunde. Dieser einen Stunde fieberte sie den ganzen Tag entgegen. Sie las alles. Ich gab ihr jede Menge Bücher. Und sie brachte Sätze wie: Oh, dieser Dostojewskij ist großartig. Er ist viel besser als Ken Follett, aber längst nicht so gut wie John Grisham. Manchmal überlege ich mir, Bücher zu schreiben, die Helen mag. Zuerst jedoch denke ich an Ken, an den Mann, mit dem ich seit 13 Jahren zusammen lebe. Er ist ein großartiger Analytiker und ein ausgezeichneter Leser. Ich zeige ihm meine Entwürfe und er macht Vorschlägen, gibt Anregungen. Ich muss für einen bestimmten Leser schreiben, sonst klappt es nicht.
? Sie schreiben sehr offen über Lesben und Schwule. Steckt eine bestimmte Absicht dahinter, möchten Sie in ganz selbstverständliche Art auf Lesben und Schwule aufmerksam machen?
! Ja, und hätte ich eine Art Mission, dann wäre es diese: Es ist an der Zeit, dass diese Geschichten erzählt werden. Es ist an der Zeit, dass Lesben und Schwule als ein Teil dieser Welt akzeptiert und integriert werden. Wir müssen nicht über unser Coming out reden, müssen nichts erklären, uns rechtfertigen. Die einzige moralische Verpflichtung, die Homosexuelle haben, ist ihr Lesbisch- und Schwulsein offen zu leben. Ich weiss, es ist nicht einfach. Es gibt Probleme, im Job beispielsweise. Auch wenn Leserbriefe in Zeitungen etwas bewegen mögen, Demonstrationen ihre Wirkung haben: Der einzige Weg, wirklich etwas zu bewegen, Homophobie abzubauen ist sich zu bekennen. Und ich möchte so viele Lesben und Schwule porträtieren wie nur möglich.
? Und warum musste Richard an Aids sterben?
! Es war notwendig für das Buch. Richard ist die Fortführung von Septimus bei Virginia Woolf, der im Ersten Weltkrieg Selbstmord begangen hat. Er ist ein Opfer dieses Krieges, Richard ist ein Opfer von Aids. Ich hatte allerdings schon ein ungutes Gefühl, einen Schwulen an Aids erkranken zu lassen. Ich möchte kein Klischee produzieren im Sinne von Schwuler = Aids. Daher hatte in meinem Roman Fleisch und Blut nicht die Titelfigur, ein Schwuler, Aids, sondern seine heterosexuelle Schwester.
? Und was hat es mit dieser Sehnsucht nach Familie, nach einer Beziehung auf sich, die vielen ihrer Romanfiguren anhaftet?
! Ja, diese Sehnsucht ist sehr präsent in meinen Büchern. Das überrascht mich immer wieder. Es hat sehr viel damit zu tun, dass ich von Aids verschont geblieben bin. Jahrelang habe ich gesehen wie Freunde krank wurden, starben. Ich habe Leute gekannt, die von ihren Familien unterstützt und gepflegt wurden. Aber ich habe auch erlebt, wie diese leiblichen Familien versagt und gute Freunde diese Rolle übernommen haben. Und diese Freunde erleben, was du durch machst, kaufen für dich ein, zahlen deine Rechnungen, wenn du es nicht mehr kannst, bringen dich ins Krankenhaus, sitzen an deinem Bett und regeln alles, was danach kommt ... Ich romantisiere diese Freunde, diese selbst gewählten Familien nicht. Sie sind manchmal keinen Deut besser als leibliche Familien. Doch auch sie müssen in Roman auftauchen, sie sollten nicht ignoriert werden...
 
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