Die unabhängige First Lady

 
  Eleanor Roosevelt  
  Als Nichte eines US-Präsidenten wurde sie die Ehefrau eines zukünftigen Staatsoberhaupts. Doch nicht nur um ihre sechs Kinder und ihren Polio-erkrankten Ehemann kümmerte sich Eleanor Roosevelt, sondern vor allem um die Belange von Menschen, die bis dahin fast ohne Lobby gewesen waren: Frauen, Schwarze, sozial und wirtschaftlich Schwache. Sie war eine eigenständige Aktivistin an vielen Fronten der Politik, ohne selbst öffentliche Ämter zu bekleiden, und zugleich die starke Frau hinter dem Präsidenten der USA. Ihre engen Bindungen zu lesbischen Persönlichkeiten ihrer Zeit sorgen heute für kontroverse Diskussionen unter HistorikerInnen.

Anna Eleanor Roosevelt wurde am 11. Oktober 1884 in New York als Spross einer einflussreichen Politikerfamilie geboren. Früh lernte sie die problematischen Seiten des Lebens kennen: Sie galt selbst ihrer Mutter als "unhübsches Kind"; ihr Vater Elliott Roosevelt, jüngerer Bruder des späteren US-Präsidenten Theodore ("Teddy"), flüchtete sich nach langem Kampf mit Krankheiten und Depression zu Morphium und Alkohol. Mit zehn ist Eleanor Waise und wird von ihrer strengen Großmutter Hall aufgezogen. Erst als sie mit sechszehn Jahren in ein englisches Gymnasium in der Nähe von London geschickt wird, blüht die schüchterne Eleanor auf. "Erstmals ohne Angst" beginnt sie dort, sozial und intellektuell zu agieren. Nur wiederwillig kehrt das große, schlaksige Mädchen 1902 nach New York zurück, um standesgemäß in der Ballsaison zu "debütieren".
Beim Upper-Class-Amusement trifft sie einen Freund aus Kindheitstagen wieder - den zwei Jahre älteren Franklin Delano Roosevelt, einen Cousin fünften Grades - mit dem sie sich zunächst inoffiziell verlobt. 1905 schließlich führte Onkel "Teddy" Eleanor zum Traualtar - und die Anwesenheit des US-Präsidenten bei diesem gesellschaftlichen Ereignis zog weitaus mehr Journalisten in die Kirche, als persönliche Gäste anwesend waren. In den folgenden zehn Jahre erfüllte Eleanor "sehr gut die Rolle einer ziemlich konventionellen, stillen, jungen Society-Ehefrau": Sie gebar ihrem Mann Franklin sechs Kinder - ein Mädchen und fünf Jungen, wovon eines noch als Baby starb - und stand vollauf unter dem Pantoffel ihrer dominanten Schwiegermutter Sara Delano Roosevelt. Diese baute dem Ehepaar zwar ein eigenes Haus, setze aber gleich ein zweites für sich daneben, mitsamt der stets offenen Verbindungstür.

Franklin machte in der Zwischenzeit ganz nach dem Vorbild seines Onkels Teddy politische Karriere: Schon 1911 zum Mitglied im Senat des Staates New York gewählt, ernannte man ihn 1913 zum Vizestaatssekretär im Marineministerium. In der Hauptstadt Washington erwarteten die Politikergattin Eleanor ungewohnte Aufgaben, die sie arbeitsam und fleißig ausfüllte: Sie musste ihre Schüchternheit überwinden, um die dort so wichtigen "unoffiziell-persönlichen" Kontakte zu pflegen und ihren Mann gesellschaftlich zu repräsentieren. Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen auf die amerikanische Bevölkerung führten sie dann näher zu ihrer wahren Berufung: dem sozialpolitischem Engagement. So sieht Eleanor, die wenn auch nicht wohl-, aber finanziell behütet aufwuchs, erstmals hungernde Soldaten in Schlangen an der öffentlichen Suppenküche anstehen und erlebt, wie schlecht Verletzte in den Hospitälern versorgt werden. Mit ihrem Mann tauscht sie sich über ihre Beobachtungen aus, und wird dadurch zunehmend zu seinem Auge und Ohr.
Als Franklin D. Roosevelt 1921 an Polio erkrankt und gehbehindert bleibt, ist es Eleanors Initiative zu verdanken, dass er neuen Mut schöpft und in der Politik aktiv bleibt. Für seine Wahlkampagnen benötigt er Stimmungsbilder aus der Bevölkerung, und Eleanor tourt durchs Land und filtert für ihn alle wichtigen Informationen. Zusätzlich beginnt sie, sich eigenständig politisch zu engagieren, Netzwerke zu knüpfen und Lobbyarbeit zu betreiben. Sie wird Mitglied in zahlreichen Komitees und Gremien zur Verbesserung der Stellung der Frau (das Frauenwahlrecht wurde in den USA erst 1919 eingeführt) und engagiert sich von jetzt an immer mehr sozialpolitisch.


In diese Lebensphase fällt auch eine gravierende Veränderung in ihrem Privatleben. Nachdem sie von einer Affäre ihres Mannes mit seiner Privatsekretärin erfährt, wandelt sich ihre eheliche Beziehung nachhaltig. Aus der Liebesbeziehung wird eine Partnerschaft, aus dem Ehebund eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung, ohne das die Ehe geschieden wird. Eleanor verbringt ihre Freizeit zunehmend im Kreise neuer Freundinnen aus der Frauenbewegung, von denen viele lesbische Beziehungen leben. Zu ihrem engsten Freundinnenkreis zählt bald schon das Paar Nancy "Nan" Cook und Marion Dickerman, in deren Wohnung in Greenwich Village Eleanor häufig übernachtet. Im Jahr 1924 bauen sich die drei sogar ein gemeinsames Haus auf einem Rooseveltschen Grundstück im New Yorker Vorort Hyde Park. In "Val-Kill", so der Name des Anwesens, stickte Eleanor ihre drei Initialen ENM in jedes Wäschestück und gravierte sie in die Möbel. Zwei Jahre später erwirbt das Trio die New Yorker "Todhunter School for Girls", deren neue Rektorin Marion wird und in der Eleanor unterrichtet. 1927 eröffnen sie bei Val-Kill eine Möbelfabrik als Ausbildungsstätte für die arbeitslose Landbevölkerung, mit Nan als Managerin und Eleanor als Vertriebsleiterin. Über die Natur dieser Dreierbeziehung ist jüngst viel spekuliert und heftig diskutiert worden. Dass Eleanor Roosevelt an sexuelle Freiheiten glaubte und in dieser Hinsicht einen liberalen Standpunkt vertrat, belegt ein Tagebucheintrag aus dem Jahr 1925: "Keine Form der Liebe darf herabgewürdigt werden," schrieb sie dort.


Ende 1932 fand die kontinuierliche und von Eleanor beharrlich unterstützte politische Karriere ihres Mannes ihren Höhepunkt: Franklin D. Roosevelts gewann die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ... und Eleanor hielt als First Lady Einzug ins Weiße Haus. Allerdings nicht sonderlich gern und widerstrebend gegenüber den so ganz anderen gesellschaftlichen Verpflichtungen und der damals extrem eingeengten Rolle als Präsidentengattin, schenkt man den Aussagen von Zeitzeugen glauben. Dennoch mochte sie nicht ablassen von ihrem vehementen Engagement für alle möglichen sozialpolitischen und zunehmend auch politischen Belange. Eine unerwartete Bestärkung in ihrem Wunsch, trotz ihrer Position ihre eigene politische Arbeit fortzuführen, sie sogar zu intensivieren, erfuhr Eleanor von einer neuen Frau in ihrem Leben: Die bereits mit ihr bekannte Erfolgsjournalistin - und bekennende Lesbe - Lorena Hickok wurde von der weltgrößten Nachrichtenagentur AP als persönliche Korrespondentin für die First Lady abgestellt ("She is all yours now, Hickok! Have fun!", so der AP-Bürochef seinerzeit). Lorena Hickok - von Eleanor "Hick" genannt - war optisch genau das Gegenteil ihres neuen Gegenstands: eher klein, etwas übergewichtig und Kette rauchend. Aus der anfänglichen Freundschaft wurde wohl bald schon eine intensive Liebesbeziehung, deren physische Komponente heute heftig umstritten ist. Von der über 30 Jahre hinweg geführten Korrespondenz der beiden ist nicht mehr viel erhalten: Vor allem die Briefe aus den ersten beiden - wohl intimsten Jahren - fehlen. Zwischen 1936 und ihrem Tod 1968 sichtete und zerstörte Lorena Hunderte von Briefen. Für den intimen Charakter der Beziehung gibt es trotz allem noch deutliche Hinweise. Unter anderem ist ein Brief erhalten, in dem Lorena während einer längeren Trennung schmachtete: "Am deutlichsten sehe ich deine Augen, mit jenem herausfordernden Lächeln darin, und erinnere mich, wie sich der nordöstliche Winkel deines Mundes an meinen Lippen anfühlt ... ."


Für Eleanors unverändert starkes - und unverändert halbamtliches - politisches Engagement wirkte die Verbindung der beiden Frauen befruchtend. Eleanor begann eine regelmäßige journalistische Aktivität, veröffentlichte Artikel, Kolumnen und Radiobeiträge, die ihre Anliegen thematisierten. Während der Weltkriegsjahre warteten immer noch weitere humanistische Herausforderungen auf die unermüdliche Aktivistin. In dieser Zeit war Lorena die Frau hinter der Frau, die immer wesentlich mehr war, als die Frau hinter dem Präsidenten.
Mit den Jahren allerdings verebbte die Leidenschaft. Offenbar konnte Eleanor ihrer Lorena in letzter Konsequenz nicht geben, was diese sich wünschte ... und Lorena zog sich nach und nach von ihr zurück. Eleanor kompensierte mit noch stärkerer Arbeitswut. Nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes nur wenige Wochen vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands schied sie ohne bedauern aus dem Fokus der Öffentlichkeit - es heißt, sie habe sogar eine Präsidentschaftskanditatur ausgeschlagen - blieb aber nach wie vor in einflussreichen Positionen basispolitisch aktiv. Unter anderem war sie Mitglied der amerikanischen UN-Delegation und Vorsitzende der Kommission, die 1948 die bahnbrechende "Erklärung der Menschenrechte" verfasste. Eleanor Roosevelt kam die Ehre zu, vor der Vollversammlung der UNO den Text der Erklärung zu verlesen. In den restlichen Jahren ihres Lebens arbeitete sie unermüdlich im Sinne von Demokratie und Humanismus - unter anderem gegen die Kommunistenhetze des Inquisitors MacCarthy - und ließ sich auch von körperlichen Gebrechen nicht in ihrem Engagement beschränken. Sie starb 78jährig am 7. November 1962 in New York.



Sabine König/Anne-K. Jung


Literatur:

Blanche Wiesen Cook: Eleanor Roosevelt: Volume I, 1884-1933, Penguin Books 1993, 587 S., 16,75 EUR

Blanche Wiesen Cook: Eleanor Roosevelt: The Defining Years, 1933-1938, Penguin Books 2000, 704 S., 17,73 EUR

Lorena A. Hickok: Eleanor Roosevelt: Reluctant First Lady, New York (1962) 1980, 176 S. (in guten Büchereien zu erhalten)

Eleanor Roosevelt: The Autobiography of Eleanor Roosevelt, Da Capo Press 1992, 488 S., 18,28 EUR

Rodger Streitmatter (Hg.): Empty Without You: The Intimate Letters of Eleanor Roosevelt and Lorena Hickok, Free Press 1998, 304 S., 24,70 EUR

Darüber hinaus sind fast nahezu alle Kolumnen und Reden Eleanor Roosevelts in Buchform erschienen und zumindest im amerikanischen Original im Buchhandel erhältlich!
 
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