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Annie Sprinkle
winkt schon von weitem. Den BH zieht sie sich als erstes aus unter ihrem Riesenpullover
im Lokal, wo wir zum Interview verabredet sind. Ihr langes Haar ist flammend pink,
dunkelrot und blond gefärbt, die silbern getuschten Augen blitzen. Sie will
als erstes wissen, ob ich mit Männern oder mit Frauen ins Bett gehe. Sie selbst
steht auf das Dazwischen. Doch dazu später. Auf Ihrer Visitenkarte steht Dr.
Annie Sprinkle.
Die rennomierte Kultur-Stätte
Kampnagelfabrik hatte sie im Januar zur Kunst- und Performancereihe "Zeig mir
Dein Fleisch" eingeladen und ist ausverkauft. Da stand Annie Sprinkle (47) in
Sex-Berufskleidung mit fast entblössten Brüsten und Perücke lächelnd
vor ihrem Publikum und führt das Video "Herstory of porn" vor. In
der Performance geht es um Sprinkles persönliche Evolution als Sex-Arbeiterin.
Um 25 Jahre als Hure und Film-Hure, um die Veränderungen in ihrem Leben, den
Einfluss der New Age-Bewegung auf ihre Sexualität, um ihr Cominout als Lesbe
und um ihr Anliegen, ihre Erfahrungen an Frauen und an Sex-Arbeiter weiterzugeben.
Ausschnitte aus Hardcore-Pornos mit Seventies-Charme sind Teil von Herstory of Porn:
Annie ist zu Beginn gerade 18 und hat die Hippie-Sex-Liberation hinter sich. "I
played a virgin in this one." Kostproben intensiver Begegnungen mit Pornodarsteller-Schwänzen.
Mit zuckersüsser, mädchenhafter Stimme: "I see, this is exciting you
very much, so just feel comfortable and masturbate. Just feel free." Betretenes
Schweigen im Publikum. Mit 25 Jahren hat sie angefangen, direkt in die Kamera mit
ihrem männlichen Publikum zu sprechen: im ersten selbstdirigierten Pornostreifen.
"Hello, I am Annie and want to have some fun with you. I show you some places
in new York, where I use to get very very horny." Annie ist die aktive sexuelle
Frau, die ihren Spass hat und den Zuschauern gerne was davon abgibt. Nicht das ausgebeutete
Porno-Objekt, wie viele feministische Theoretikerinnen vermuten. Nach der Pause kommt
die Wende: "In the eighties I decided to be a lesbian, entered into the feminist
scene and began to shift the focus of my videos on a female audience.", Sie
zeigt Ausschnitte von Videos mit Frauen-Sex-Szenen: eifriges Lecken, fröhliche
Faustficks und zärtliche, versponnene Liebesszenen zwischen einer jungen und
einer alten Meerjungfrau. Ganz offensichtlich arbeitet sie als kreatives Subjekt
in der Pornografie. Judith Butler meinte dazu: "Annie Sprinkle ist eine wichtige
Figur, weil sie gezeigt hat, dass Sex-Arbeit Arbeit ist und dass eine Anzahl von
Frauen zur Sex-Arbeit aus einer Anzahl von Gründen gekommen sind. Sie sind nicht
willenlose Werkzeuge oder Sklaven des Patriarchats."
Auf was stehst Du eigentlich Annie, auf Frauen oder auch auf Männer?
A: Es ist kein Geheimnis, dass viele Lesben Schwänze wirklich mögen. Aber
ich habe sie satt. Ich hatte genug Schwänze. Ich lebe heute ganz monogam mit
Frauen zusammen. Aber ich mag Androgynität. Ich mag Männer mit Möse,
ob Dragking oder transsexuell. Ich liebe Männer, die Frau waren. Das finde ich
heiss. Das Konzept der Bisexualität ist sehr begrenzt: Mann oder Frau. Androgyne
stehen darüber. In San Francisco gibt es bald ein Festival für alle Arten
der Geschlechter. Queer ist der Ausdruck dafür. Da werde ich eine Performance
machen.
Was denkst Du, wenn Du die Berichte aus Afghanistan siehst?
A: Ich habe diese Bilder so satt. Alles ist männlich. Ab und zu sieht man mal
eine Frau. In Amerika ist das ähnlich. All diese Kriegsleute sind Männer.
Ich hatte eine Fantasie, zusammen mit Sexarbeiterinnen nach Afghanistan zu reisen.
Weil viele Frauen sich dort prostituieren müssen, weil sie sonst nichts zu essen
haben. Wenn Menschen mehr Sex frei verfügbar hätten, dann wäre mehr
Frieden in der Welt. Menschen brauchen Berührung und Liebe. Sex ist nur ein
Vehikel, um Nähe, Zuwendung, Intimität zu kriegen.
In der Sexindustrie werden Frauen ausgebeutet, findest Du nicht?
A: Mag sein der Produzent macht Millionen Dollars und sie, die jungen Frauen, machen
nur Hundert dabei. Aber sie haben ihren Spaß. Sie wissen noch nicht, wie man
Geld verdient, aber der Typ weiss es. Sie will nur ein bisschen Geld nebenher machen.
Sie ist eine Art Sex-Kellnerin. Niemand würde behaupten, eine Kellnerin wird
ausgebeutet, bloss weil sie keine Lust auf den Karriere-Part hat.
Mit Deinen Branchenkenntnissen hättest Du viel Geld verdienen können und
gute Frauenarbeitsplätze schaffen können. Warum machst Du das nicht?
A: Ich war an dem Business nie so interessiert. Ich bin nicht so heiss darauf. Ich
habe fünf Videos mitgebracht, aber es ist mir egal, ob sie jemand kauft. Ich
war interessiert, sie zu machen. Ich reise lieber, schreibe für Gay-Magazine
und studiere. Ich möchte nicht am Schreibtisch sitzen und den ganzen Tag telefonieren.
Adult-Entertainment steckt mehr Umsatz, als in der Sport- oder Musik-Industrie.
Es ist die Frage, wohin man seine Energie schicken will. Vor ein paar Jahren ist
mein Hausboot verbrannt und alles was ich hatte. Ich besass ncihts mehr. Freunde
halfen mir und aus 7 Ländern haben mir irgendwelche Leute Geld überwiesen.
Es war hinreissend. Da hatte ich so viel auf der Bank, wie nie zuvor. Ich habe mein
Studium an der University for Sexology damit finanziert und den Rest auf eine Creditkarte
gepackt.
Was sind Deine nächsten Pläne?
A: Ich habe jetzt meinen Doktor
in Sexology gemacht. Für mich ist die Grundlage des Sex die Erziehung, das Lernen.
Es ist eine Sache zwischen Lehrern und Schülern. Sex-Erziehung kann ein Video
sein, eine Performance, eine Photoausstellung. Sex ist politisch und es ist eine
Lebenskunst. Ich möchte die Sexkultur bewegen, Menschen inspirieren, zum Wachstum
bringen. Pornografie, sagt man, ist was für die niederen Klassen, die normalen
Leute. Deshalb mag ich es gerade, meine Performance hier zu machen, vor diesem Upper-Class-Publikum.
Ich würde das aber nicht machen, wenn ich nicht soviel Geld dabei verdienen
würde. Denn diese Performance ist schon alt. Ich arbeite zur Zeit an etwas ganz
anderem, an Zukunftsmöglichkeiten für Sexarbeiterinnen. Ich möchte
die Sexarbeiterinnen weiterbilden und habe einen Fragebogen entwickelt, um mehr über
das zu erfahren, was sie gerne lernen möchten. Mit Geld umgehen, Marketing,
Promotion, Geschichte der Sex-Arbeit, oder wie man mit dem Burnout-Syndrom klarkommt,
zum Beispiel. Oder Erotischen Tanz lernen, Massagetechniken, solche Sachen. Zum Beispiel
die düstere Athmosfäre in Sex-Tanzclubs. Der ganze Bereich ist sehr männerdominiert,
es ist wie bei der Mafia. Das könnte doch viel schöner sein. Ein Hurenhaus
sollte weiss sein und Blumen und einen Springbrunnen haben.
Welche Zukunftsvision hast Du für die Prostitution?
A:Als erstes die Legalität. In Amerika ist sie illegal, Du kannst im Gefängnis
landen und eine Geldstrafe kassieren. Wenn Frauen mehr Macht darin hätten, wäre
es besser für alle, sogar für die Typen, die das nicht wollen und das ganze
Geld, dass sie Pornostars hereinbringen für sich einsacken.
Du hast den Ausdruck: "Sacred Prostitute" gebraucht, was meinst Du damit?
Jemand, der wirklich achtsam ist. Das kann eine Frau, ein Transgender oder ein Mann
sein, aber sie muss ausgebildet sein im Heilen. Sie muss sehr liebevoll sein und
unglaublich gut sein im Spirituellen, im Wissen und im Heilen. Sie ist eine Freuden-Künstlerin,
die auf einem sehr tiefgründigen Niveau mit Menschen umgehen kann.
Das hört sich an, als wären Prostituierte Gurus für Dich.
Sex zu haben mit einer Prostituierten kann schrecklich sein. Es kann aber auch die
göttlichste, heilsamste, liebevollste, ekstatischste Erfahrung Deines Lebens
sein, das hängt von vielem ab. Natürlich muss sie über Bildung und
Selbsterfahrung verfügen, eine verzweifelte Drogenabhängige wird es nicht
können. Viele Huren sind sehr spirituell und für mich sind sie die wunderbarsten
Menschen auf der Welt.
Interview: Cornelia Gürtler |
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