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Frauenbuchladen Tian

"Die Idee, einen Frauenbuchladen aufzumachen, hatte ich in der Nacht, als die Mauer fiel. 'Jetzt kann man endlich machen, wozu man Lust hat!, dachte ich." 25 Jahre lang hatte Ingrid Ewald, Jahrgang 1950, vergeblich versucht, im Buchhandel der DDR zu arbeiten.

Statt dessen schlug sie, die seit einem Unfall behindert ist, sich mit Jobs durch, von der Loseverkäuferin bis zur Museumsangestellten. Schließlich war sie sogar 7 Jahre arbeitslos, was es in der DDR jedoch offiziell überhaupt nicht gab. "Daß es Frauenbuchläden gibt, wußte ich aus dem Westfernsehen. Überhaupt kannte ich mich ganz gut aus mit dem Westen, kannte sogar sämtliche Regierungsmitglieder. Heute weiß ich, ehrlich gesagt, nicht genau, wer da so regiert."

Am 4.12.1989 jedenfalls fuhr Ingrid mit ihrer Mutter und der Pudeldame Tima mit einem Hundetaxi für rund 100 Ostmark nach Westberlin, um sich ihre 100 Westmark Begrüßungsgeld abzuholen. Dort kaufte sie sich auch ihre erste EMMA, in der sie eine Auflistung aller Frauenbuchläden fand. Sie schrieb an alle. Antworten kamen zunächst keine.
Die erste Leipziger Buchmesse nach dem Mauerfall hatte ein besonderes Flair. Schon lange war Ingrid nicht mehr zu dieser Rennommierveranstaltung der DDR hingegangen: der Frust, all die Bücher, die es zu bestaunen gab, sowieso nie kaufen und lesen zu können, hielt sie fern. Nun klingelte plötzlich das Telefon: "Hier ist die Anke." "Welche Anke?", fragte Ingrid. "Schäfer. Vom Frauenbuchversand Wiesbaden. Du hast uns doch geschrieben. Wir stehen jetzt hier irgendwo in Leipzig mit einem Passat voller Bücher und wissen nicht, wohin." Wenig später räumte Ingrids Mutter sofort ihr Schlafzimmer und quartierte die Westfrauen ein. 200 "Virginias" und Bücher für mehr als 1000 DM hatten sie dabei, die sie Ingrid als Anschub- und Starthilfe für ihren Frauenbuchladen schenken wollten. Gemeinsam gingen sie zur Buchmesse.

Mit den Worten "Das ist in Zukunft Dein Job," schubste sie Ingrid in die Messebox so manchen Verlages, wo sie Kontakte knüpfte, die zum Teil bis heute bestehen.

Bereits während dieser Buchmesse gab es auch die linke, grüne und/oder autonome Gegenveranstaltung. Ingrid war überrascht von der Wärme und Freundschaftlichkeit. Auch hier konnte sie für wenig Ost- oder Westgeld Bücher aufkaufen. Als sie etwas schwankend vor Müdigkeit doch voller Euphorie den Veranstaltungsort verließ, sah sie sich plötzlich einer Kamera und einem Mikrophon gegenüber. So kam es, daß sie an diesem Tag auch noch ihr erstes Fernsehinterview gab.
Am nächsten Tag reiste Anke ab, nicht, ohne Ingrid nach Wiesbaden eingeladen zu haben, um den dortigen Buchladen kennenzulernen und sich selbst ein Bild zu machen.
Anfang Mai 1990 ließ sich Ingrid auf dieses Abenteuer ein. Ein Auto hatt sie natürlich nicht. Auch kaum (West-) Geld. Nach fast 12 Stunden Zugfahrt stellte sie auf dem Bahnsteig in Wiesbaden fest, daß sie Ankes Adresse vergessen hatte. Ingrid wußte nur noch, daß es die Rosa-Luxemburg-Straße war. Also rief sie ein Taxi. Es entbrannte ein heftiger Streit, denn der Fahrer beharrte darauf, daß es keine Rosa-Luxemburg-Straße gäbe in Wiesbaden. "Das heißt Luxemburgstraße!" brüllte er. "Da bekam ich einen roten Koller und beharrte auf Rosa! Da komme ich hierher, weil ich einen Frauenbuchladen aufmachen will, und muß mich mit so einem Wichser rumärgern!" Irgendwie wurde das Haus doch gefunden - aber Anke war nicht da. Abends, 22 Uhr, wieder auf dem Wiesbadener Bahnhof: Was tun?! Da sprach eine gute Fee: "Aber Ingrid, Du hast doch einen EMMA-Kalender." Tatsächlich fand sie die Telefonnummer vom Wiesbadener Frauenzentrum. "Hast Du ein Glück, daß ich heute zufällig hier bin", sagte eine freundliche Stimme am anderen Ende. Wildfremde Fraue kamen, holten die müde Leipzigerin ab und brachten sie unter. Dankbar, denn sie war fast am Verdursten, hob Ingrid einen großen Pott an die Lippen - und hätte sich gern übergeben: Stilles Mineralwasser!!! Schließlich stöberten die cleveren Frauen auch noch Anke auf, die in ihrem Garten war. Endlich bekam Ingrid auch was Richtiges (wie sie damals meinte) zu trinken: einen Rhein-Hessen-Weißwein.

Am nächsten Tag sah sie sich den Frauenbuchladen an. Es hätte ihr zu denken geben müssen, daß in all der Zeit, die sie dort war, nur eine einzige Kundin auftauchte.

Immerhin kaufte diese zwei Bücher, um sie Ingrid für Leipzig zu schenken.
Ingrids nächste Station sollte das Frauenbuchladentreffen in Charlottenberg bei Wiesbaden werden, wo sie ihre Idee vorstellen wollte. Inzwischen hatte sich auch eine Freundin aus Leipzig zu ihr gesellt. Die Luft in Charlottenberg soll sehr trocken sein, hatte Anke Ingrid gewarnt, außerdem werde dort vegetarisch gegessen.

Irgendwie fielen die beiden Ostfrauen unangenehm auf, als sie ihren Kasten Bier in das Foyer von Charlottenberg poltern ließen. Auch Ingrids Beteuerungen, in den übergroßen Hauspantoffeln aus Filz nicht laufen zu können, ließ frau kaum gelten. Als das Abendessen hereingebracht wurde, wurde sie blaß. "Ich hatte doch erst meine ganz, ganz neue Brücke. Und die brachten eine riesen Schüssel mit relativ großen Körnern. Dann kam noch eine Schüssel mit Quark und eine mit Gras - so sah es jedenfalls aus. Ein Aufschrei der Begeisterung ging durch die Frauen und imnu hatten sie alles weggeputzt. Ich hatte nur Angst, meine neue DDR-Brücke zu zerbeißen. Außerdem gab es ungefähr 15 Sorten Tee."

Während des Essens wurde angekündigt, daß es am Abend Lesbenlieder zur Laute gäbe. Ingrids Freundin stürzte sich voller Freude in die Veranstaltung - um nach kurzer Zeit mit den Worten "So ein Scheiß!" wieder aufs Zimmer zurückzukehren. "Das Haus selbst war sehr schön, so aus naturbelassenem Holz und Stein. Aber die Toiletten: Die Fußböden waren aus großen Kieselsteinen, was wenig behindertenfreundlich war. Die Klotüren erinnerten an Saloontüren, die immer ca. 20 Zentimeter offenstanden. So versuchte ich, mit einer Hand die Tür und mit der anderen die Hose zu halten. Ich habe gesehen, wie einer Benutzerin fast der Schädel eingeschlagen wurde von einer, die auch dringend mußte. Hätte ich ein Auto gehabt, wäre ich bestimmt geflüchtet. Ein paar Frauen von der Frauenoffensive hatten eins und ich sah ihnen mehrmals neidisch nach. Ein bißchen mußte ich aber auch lachen: Von der DDR in ein Frauenbuchladentreffen!" Am nächsten Morgen ging es 9 Uhr los. Alle sollten sich ersteinmal vorstellen. Auch Ingrid beschrieb, was sie vorhatte. Schweigen. Dann: "Kriegen die dann mehr Rabatte?!" "Nun laßt doch die Ostfrauen erstmal aussprechen!" "Habt Ihr eigentlich schonmal darüber nach gedacht, wie sich die Ostfrauen fühlen müssen, wenn Ihr sie immer Ostfrauen nennt?!" Solch Diskussionen flogen Ingrid um die Ohren. Und: "Ja, wir bekommen viele Leseexemplare. Aber Bücher von Männern schmeißen wir gleich weg."

Langsam wurde Ingrid wütend, von Zensur hatte sie eigentlich seit Jahrzehnten die Nase voll. Viele der Buchladencrews kamen Ingrid vor wie "Elferräte": so etwa elf Frauen arbeiteten immer irgendwie mit.

Wieviel man an einem Buch verdienen muß oder wieviel verkauft werden muß, um davon leben zu können, auf solche Fragen bekam sie keine Antwort. "Aber jeden Montag haben wir ersteinmal ein Plenum", erklärte ihr eine weitere Frauenbuchhändlerin. Als Anke Schäfer Ingrid schließlich irgendwann fragte, ob sie denn gelernt habe, wie es geht, antwortete sie ihr: "Nein. Nur, wie es nicht geht." Zu einem Frauenbuchladentreffen ist sie nie wieder gefahren.
Auf Ankes Rat hin ging Ingrid, wieder in Leipzig, gleich zum Gewerbeamt und sagte, daß sie sich solange nicht wegbewegen würde, bis sie eine Gewerbeerlaubnis erhalte. Seit Februar 1990 hatte sie vergeblich versucht, diesen Schein zu bekommen. "Plötzlich dauerte es nur noch ganze 2 Minuten und kostete 36 Mark - und ich war Buchhändlerin." Endlich. Inzwischen hatte ihre Mutter einen kleinen, völlig heruntergekommenen Laden aufgetrieben. Gemeinsam mit vielen Frauen wurde er ausgebaut.

Am 6. Dezember 1990 hat Ingrid Ewald ihren Frauenbuchladen Tian in der Leipziger Könneritzstraße eröffnet. Tian heißt Himmel und war das Pseudonym, unter dem die großartige Günderode einst schrieb.

Schon bald kam ein Lesecafé dazu, und viele Frauen- und Lesbenprojekte nahmen hier ihren Anfang. Bis heute gibt es die gelungene Kombination aus Vereinsräumen und kommerzieller Buchhandlung. Im Dezember 1997, also im 7. Jahr des Bestehens, ist frau umgezogen. In neue, sanierte Räume zum gleichen Mietpreis. Der Laden heißt nur noch "Tian", das Sortiment von Frauen- und Lesbenliteratur, Kinderbüchern, Esoterik, Krimis und Psychologie wurde um Leipzig-Literatur erweitert. Nun kommen mehr und mehr auch Leute aus dem Stadtteil. "Ich hatte oft den Eindruck, das Wort FRAUENbuchladen kostet mich 50% meines Umsatzes. Zumal es für Frauenbuchläden hier im Osten keine Tradition gab, wie für Feminismus überhaupt. Anfangs kamen sogar viele Frauen, die nach Strickmustern fragten. Ob der neue, etwas verkürzte Name ein Rückschritt ist, weiß ich nicht. Sicher ist das für ein paar Frauen wieder ein Grund zum Geifern. Aber die haben ohnehin nie ein Buch bei mir gekauft."

Aufgeschrieben von Martina Weigel, Leipzig

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