Auf der Suche nach der verlorenen Identität

 
  David Lynchs Thriller Mulholland Drive  
  Von Kirsten Liese

Dieser Film ist ein Muss. Zumindest für alle, die den mysteriösen Nervenkitzel lieben, sich gerne auf parapsychologische Pfade begeben und schon immer auf einen anspruchsvollen film noir mit lesbischer Liebeshandlung gewartet haben. Zwar gibt es in Mulholland Drive viele Parallelen zu Lost Highway, dennoch hat David Lynchs jüngstes Meisterwerk, das noch rätselhafter und undurchsichtiger wirkt, einen völlig neuen Charakter. Selbst bei Hartgesottenen mag der Film an die Urängste rühren, nach einem Schicksalsschlag das Gedächtnis zu verlieren, oder – in Zeiten der Genforschung - vielleicht eines Tages einer echten Doppelgängerin gegenüberzustehen. Ganz ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht, dass Lynchs alptraumartige Fantasien sich eines Tages erfüllen. Das gerade macht den Film so unheimlich, zumal es ihm gelingt, einem peu à peu den Boden unter den Füßen zu entziehen. Selbst die ausgeklügelsten Analysen und Deutungen bleiben reine Spekulation. Deshalb wirkt dieser film noir, in Cannes verdientermaßen für die beste Regie prämiert, beim zweiten Mal noch genauso spannend wie beim ersten.
Wer ist die Unbekannte, die sich nach einem Unfall weder an ihren Namen noch ihr Vorleben erinnert? Existiert die Schönheit real oder nur im Traum? Eine Reinkarnation von Rita Hayworth? Oder erkennt die blonde Geliebte ein Alter ego in der heißblütigen Diva? Eine eindeutige Identität besitzt jedenfalls keine der beiden Heldinnen in Mulholland Drive. Die beiden werden einander immer ähnlicher, verlieben sich ineinander, verlieren sich aber ebenso schnell wieder, kaum dass sie in einer magischen Nacht symbiotisch verschmolzen. Vielleicht ist alles nur eine Illusion wie ein Zauberer mit hypnotischen Kräften prophezeit.

Traumen, Alpträume, Déjà-vu

Es beginnt mit einer Fotomontage und fetzigem Rock’n Roll. Junge tanzende Menschen vor lilafarbenem Hintergrund. Aus der Masse tritt wie ein Star die weiße, stark überblendete Silhouette einer Frau hervor. Schnitt. Eine blutrote geheimnisvolle Decke, unter der sich etwas bewegt und atmet. Ein(e) Träumer(in)? Schnitt. Eine schwarze Limousine auf dem verlassenen Mulholland Drive mitten in der Nacht. Im Fond die gestylte Diva. Sie erschrickt, als der Wagen plötzlich mitten auf dem Highway stoppt. "Warum halten wir hier? Das war anders verabredet". Der Chauffeur richtet eine Pistole auf sie: "Aussteigen". In dem Augenblick rasen zwei andere Autos in den Schlitten. Crash.
Wie diese, abrupt voneinander getrennten Sequenzen spielt der ganze Film, dessen zeitliche Chronologie nach circa 120 Minuten jäh abbricht, mit Traumen, Alpträumen und Déjà-vu-Erlebnissen. Im Zentrum einer Vielzahl von Figuren stehen die Überlebende, die nach dem Unfall ihr Gedächtnis verloren hat, und eine naive, fröhliche Kanadierin, die voller Träume nach Los Angeles kommt, auf die große Karriere hofft, sich mit Rita anfreundet und ihr dabei hilft, ihre Identität wiederzufinden. Bevor sich der Film auf die beiden Frauen konzentriert, wirft uns David Lynch viele merkwürdige Brocken hin, - eine Folge von Episoden, die sich zunächst wie pointenreiche Kurzfilme aneinander reihen, sich aber dann doch im Laufe von 152 Minuten als unentbehrliche Mosaiksteine ins Ganze fügen. Sie liefern den Hintergrund für Nebenfiguren, die man fast schon wieder vergessen hat, wenn sie plötzlich im Hauptstrang doch noch bedeutsam werden.

Ein vielschichtiges Porträt von Hollywood

Da ist die Begegnung zweier Typen in einer Parkplatz-Raststätte, in der sich später auch Rita und Betty treffen werden. Der Jüngere erzählt von einem Alptraum und finsteren Ahnungen. Schon kurz darauf blickt der geängstigte Zeitgenosse tatsächlich ins Antlitz einer monströsen, mythischen Gestalt. Eine andere Geschichte handelt von einem Auftragskiller, der sich bei seiner Mission so unprofessionell anstellt, dass sich infolge grotesker Umstände bald Leichen häufen und die Alarmanlage losgeht. Nicht zu vergessen die brillante Western-Parodie im Niemandsland, wo der gedemütigte, aber dickhäutige Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) einen Cowboy (!) trifft. Alle diese Episoden ergeben in der Summe ein vielschichtiges kritisches Porträt über Hollywood, über die Illusionen, Glamour, Starkult, die golden Fourties und Fifties sowie die Skrupellosigkeit fetter Bonzen, Gangster und korrupter Produzenten.

Rita und Betty

Wie zeichnet Lynch seine Heldinnen, die sich unter merkwürdigen Umständen kennen lernen und unter verschiedenen Namen auftreten? Auf den ersten Blick steht die dunkelhaarige Rita/Camilla (Laura Elena Harring) für alles Abgründige und Unheilvolle, die blonde Betty/Diane (Naomi Watts) für die Liebe und das ewig Gute. So nimmt es Betty erstaunlich gelassen, dass sie in der Wohnung ihrer Tante auf eine verängstigte Unbekannte trifft, die nichts über sich weiß und in deren Handtasche sich bündelweise Tausend-Dollarnoten finden. Statt die Polizei zu rufen, schenkt sie der Fremden Vertrauen, obwohl zwei Nachbarinnen sie warnen. In einer Schlüsselszene prophezeit eine alte Frau, eine unwirkliche mythische Gestalt, dass etwas Fürchterliches geschehen würde. Doch solche Botschaften schrecken Betty nicht davon ab, ihrer späteren Geliebten in die düstersten Winkel eines Ortes zwischen Diesseits und Jenseits zu folgen. Im "Silencio", einem herunter gekommenen Theater, verschwimmen die Grenzen vollends zwischen Realität und Wahnsinn. Nach den traumatischen Erlebnissen an dem geheimnisvollen Ort hat sich Betty plötzlich in Luft aufgelöst.
Typen wie Rita und Betty begegnen schon in früheren Filmen von Lynch. In Blue Velvet personifizierte Laura Dern die Liebe und das Gute in einer verrohten Welt, als deren Gefangene wiederum die schwarzhaarige, unglückliche Isabella Rossellini erschien. Auch in Lost Highway gibt es die Dunkelhaarige und die Blonde, hier zum ersten Mal verschmolzen in einer Person (Patricia Arquette), die ebenso plötzlich und unerklärt Namen und Haarfarbe wechselt. Wie Rita, die in einer Schlüsselszene ihr langes schwarzes Haar abschneidet und eine blonde Perücke aufsetzt. Fortan sehen sich Rita und Betty ähnlich. Fast wie Zwillinge.
Das sind die Voraussetzungen für eine neue Geschichte, in der es nur noch Diane und Camilla gibt. Das Geheimnis beherbergt ein kleines blaues Kästchen. Gespielt wird Diane zwar von Naomi Watts, der gleichen Darstellerin von Betty. Das aber schließt nicht aus, dass Rita als Diane neu geboren wird. Schließlich kam ihr der Name spontan auf der Suche nach sich selbst in den Sinn. Doch dann hatten die beiden Frauen in Dianes Wohnung eine Leiche entdeckt. Ist am Ende die Tote wieder zum Leben erwacht? Waren Rita und Betty von Anfang an nur ein Phantom? So intelligent durchdacht und plausibel die Analyse des amerikanischen Filmkritikers Chris Willman, der Betty für nicht existent hält und den gesamten ersten Teil als Dianes Alptraum deutet: Die einzige Lösung des Rätsels ist es nicht. Mulholland Drive ist zu voll gespickt mit dunkler Magie, als dass es hinter allem nur einen Traum zu entschlüsseln gelte. Zumal einen, der sich weniger aus Betty/Dianes Perspektive entspinnt als aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters.

Lesben im Hollywood-Kino

Die irritierten Blickwechsel zwischen Betty und Regisseur Kesher, die sich flüchtig in einem Studio während eines Castings begegnen, deuten eher auf eine Bekanntschaft aus einem anderen Leben oder einer anderen Sphäre. Ein mulmiges Déjà-vu, fixieren sie sich doch spürbar verunsichert, fast beängstigt. Später wird Diane mitansehen müssen, wie ihre Geliebte mit diesem Kesher vor ihren Augen flirtet. Ein Trauma? Ob Camilla ernsthaft für den hippen Regisseur entflammt, ist zumindest sehr fraglich. Denn die großen Liebesszenen sind allein den Frauen vorbehalten. Ganz plötzlich überkommen sie große Gefühle. Für Betty ist es offenbar das erste Mal mit einer Frau. Und Rita? Sie weiß es pikanterweise nicht, kann sich noch nicht einmal an ihre sexuelle Veranlagung erinnern.
Und obwohl es zu der intimen Beziehung erst im letzten Drittel des Films kommt, geht ihr doch die Gewissheit voraus, dass Lesben im Hollywood-Kino etwas aufzuholen haben. Dabei muss man diesen Film mit der Lupe betrachten, um zu würdigen, wie Lynch en passant ein großes Stück Hollywood-Geschichte einfängt. Genau genommen sind Rita und Betty Abziehbilder, wie sie im Laufe von Jahrzehnten immer wieder begegneten: Jane Russell und Marylin Monroe ("Blondinen bevorzugt"), Audrey Hepburn und Shirley MacLaine ("Infam"), Sharon Stone und Jeanne Tripplehorn ("Basic Instinct"). Und wenn die traumatisierte Rita aus der Duschkabine (auch eine kleine Reminiszenz an Hitchcocks Psycho darf nicht fehlen) im Spiegel ein Plakat von Rita Hayworth als Gilda entdeckt, sich irritiert in ihr wiedererkennt und für einen Moment wie neu geboren fühlt, spätestens dann sind alle Zweifel ausgeräumt, dass Laura Elena Harring auch so etwas wie eine Reinkarnation des einstigen Idols der Traumfabrik ist. Keiner dieser Filme nahm allerdings Lesben ernst, sofern sie überhaupt vorkamen. Allenfalls Avnets Grüne Tomaten (1991) gestand Mary-Louise Parker und Mary Stuart Masterson unter dramatischen Umständen eine kurze, immerhin aber erfüllte Liebe zu. Wenn es nun aber heftig zwischen zwei Frauen knistert, wenn sie einander verfallen und auf zärtlichste Weise intim werden, ist das schon eine Sensation für eine amerikanische Großproduktion.

Camilla 2

Um noch mehr Verwirrung zu stiften: Es existiert noch eine andere Camilla. Ein junges, freches, aber eher unauffälliges Blondchen, das die Protektion der Ryan-Entertainment-Bosse genießt, die dem verwirrten Regisseur Kesher unmissverständlich klar machen, dass er diese - und nur diese - Süße als Hauptdarstellerin wählen wird. Damit ist der selbstsichere Kesher ganz und gar nicht einverstanden, beugt sich gleich wohl ihrem Willen, als er von dem Cowboy in die Mangel genommen wird. Was haben die beiden Camillas gemein? Eigentlich nichts, außer dass sie beide empfänglich für Frauen sind. Bei einem Festbankett, auf dem Kesher und Rita/Camilla ihre Verlobung bekannt geben, taucht Camilla 2 noch einmal auf und küsst ihr Alter ego provokant vor versammelter Menge. Vielleicht sind ja auch die beiden Camillas ein und dieselbe Person. Die Antwort darauf weiß wiederum nur der geheimnisvolle Magier, auf dessen Bühne die Weinerin (!) von Los Angeles auf einmal wie tot zusammenfällt, ohne dass ihr inbrünstiger Gesang verstummte. Findet hier der Transfer vom Diesseits ins Jenseits, von einem Leben zum nächsten statt? Der Transvestit in der Loge sagt nur "Silencio".
 
   
   
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