Der Seelenprozessor  
 

Wir erkennen uns, immer und überall auf der Welt, wie Vampire. Ich hatte schon den starken Kopf in ihr erkannt, noch bevor mir klar wurde, daß es sich bei ihr um J. handelte, die international bekannte Filmemacherin. Sie hatte nachts ganz allein in der Lounge gesessen, in einem der tiefen mintgrünen Ledersessel, und erschöpft ausgesehen. Ihre Schuhe hatte sie abgestreift. Sie rauchte versonnen, ein Glas Rotwein neben sich.

Ich blieb auf meinem Gang zum Lift fast automatisch vor dieser mädchenhaften Gestalt stehen, die mich an eine gealterte Fee erinnerte, und grüßte sie, auch dies fast automatisch. Sie war imposant. Hier war etwas, was eindeutig größer war als ich. Ihre grünen Augen blitzten mich lebhaft an: "Die armen Kühe, zu solch häßlichem Unfug verarbeitet zu werden, finden Sie nicht?" Dann reichte sie mir eine schmale Hand: "J. Leisten Sie mir doch ein wenig Gesellschaft."
Ich fuhr zusammen. J. war ein Name, den ich aus Ehrfurcht immer nur geflüstert gehört hatte. Ich kannte nur zwei ihrer zahlreichen Filme, aber die hatten mir sehr gefallen. Sie war gnadenlos düster. Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, irgend jemanden zum Lachen bringen zu wollen. Ihre Fans liebten sie. In J.ís Filmen litt man, aber ohne Selbstmitleid. Nach dem Kino spürte man nichts als den Wunsch, hinauszugehen und dem nächsten Arsch einen in die Fresse zu hauen.
J. zeigte die Welt knallhart, aber durchaus poetisch - keinesfalls Grau in Grau. Ein Kritiker hatte sie mal "den Tom Waits des Films" genannt. "Falsch", hatte J. entgegnet, die genauso alt und gut war wie er. "Tom Waits ist die J. des Songwriting." Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich keine drogenfreie kleine Familie mit zweieinhalb Kindern, dazugehöriger Mutti und einer kleinen Ranch geschaffen. Sie lebte noch immer im East Village, in New York. Mit ihrem langjährigen Geliebten (einem Journalisten, wenn ich recht informiert war).
J. plötzlich hier, im selben Hotel wie ich, fünfundzwanzig Stockwerke über dem Alexanderplatz, mit Schiffskabinen aus dunkelbraunem Furnier. Wer hatte sie bloß hierher gebracht. Sie war gigantisch. Diese kleine Person war so groß, dass ich sie mit ausgestreckten Armen nicht hätte berühren können, eine Legende. Sie hatte ganze Generationen von anderen Filmemacherinnen, aber auch Schriftstellerinnen und Musikerinnen mit ihrer Kunst beeinflußt, einfach indem sie auf ihrem eigenen seltsamen Blick beharrte, als das in den 60ern von Frauen noch nicht erwartet wurde.
Ich ließ mich neben sie in einen dieser häßlichen Sessel gleiten. Wir unterhielten uns ein bisschen. Sie fragte, was ich so machte. Ich antwortete ihr. Dann sagte sie, sie käme gerade von einer Preisverleihung. Jetzt, wo sie über sechzig sei, fielen ihr die Preise nur so in den Schoß, nach Jahren des Übersehenwerdens, der Verrisse und des Geldmangels. Und jeder einzelne verdammte Preis sei solch ein Triumph für sie, dass sie danach einfach nicht schlafen könne. Sie säße dann stundenlang herum und fühle sich einfach nur glücklich.
Das könne ich mir vorstellen, antwortete ich. Das konnte ich wirklich, wenn auch nur in Ansätzen. Schließlich hatte J. vierzig Jahre als Künstlerin gearbeitet, und ich erst vier. Aber ich hatte dasselbe Ziel wie sie. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, jemals aufzugeben. Schreiben war alles, was ich je vom Leben gewollt hatte. Und es war noch mal einen Tacken härter als bei den Jungs. J. sagte, sie hätte immer Glück gehabt, daß John, ihr Liebhaber, sie in jeder Hinsicht unterstützt hätte. Das sei selten.
J. sagte zu mir: "Erinnern Sie sich an den Kinohit des Sommers 1999, "Buena Vista Social Club" von Wim Wenders, in dem Ry Cooder all diese vergessenen kubanischen Musiker wieder aus der Versenkung holt? Erinnern Sie sich auch an die einzige Musikerin im Film, eine Sängerin namens Omara Portuondo? Haben Sie all diese Soloalben gesehen, die jetzt von den einzelnen Musikern auf dem Markt sind, wie von Rubén Gonzalez, Compay Segundo und Ibrahim Ferrer? Haben Sie eine Solo-CD von Omara Portuondo gesehen? Ich mochte ihre Art zu singen. Schade."
Wir unterhielten uns, und ich sog jede Sekunde in mir auf, um mich mit ihr anzufüllen und sie nie zu vergessen. Ich lud J.s Worte ein, mich auf immer zu prägen. Ich hätte fünf Jahre dafür gegeben, um in irgendeiner Form ihren Kopf betreten zu dürfen, einer ihrer Gedanken zu werden, eine flüchtige amorphe Idee in einem ihrer späteren Filme, die nur ich allein wiedererkennen würde, und J. hätte mich als Person schon längst vergessen.
Mein Herz schlug so heftig, dass ich glaubte, sie könne es hören. Wir sind Un-Wesen, dachte ich, selbst nicht substantiell. Nur in der Art, wie wir Dinge sehen und weitergeben, liegt etwas entscheidend Persönliches. Kunst ist wie der Speichel, den wir der Nahrung Realität beigeben, damit sie vom Zuschauer verdaut werden kann. Wir sind Prozessoren. J., verdaue mich. Mach aus mir etwas Besseres. Lade mich auf mit Bedeutung, erhöhe den Säuregrad meines Blicks. J., gib mir etwas von deiner Zähigkeit. Willst du mich heute nacht lieben? Wenn ich dir meinen Körper geben muss, damit sich unsere Seelen leichter austauschen, ist das eben so. Im Grunde wollte ich aber ihren Geist zum Jubeln bringen. Als Körper war sie mir fremd.
J. wusste nichts von diesen Überlegungen. "Jetzt bin ich aber müde", sagte sie unvermittelt, während sie sich ein paar zarte Finger vor den Mund hielt, um ein Gähnen zu unterdrücken. "Gut", antwortete ich höflich, stand auf und reichte ihr meine Hand, um ihr aus dem tiefen Sessel aufzuhelfen. Sie nahm sie. Als sie wieder losließ, hoffte ich, dass sich meine Hand gut angefühlt hatte. Wir gingen schweigend zum Fahrstuhl.
Im Fahrstuhl machten wir noch ein wenig freundliche Konversation. Der Fahrstuhl hielt, wir stiegen aus. Erst als ich gegen den Türrahmen ihres Hotelzimmers stieß, wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich auf die andere Seite der Etage gemusst hätte. J. ahnte das vermutlich auch, wenn sie meine Verwirrung sah. Gott, wie peinlich. J. aber schloss mit unbewegter Miene die Zimmertür auf und bat mich mit einer Kopfbewegung hinein. Ich wusste überhaupt nichts.
War sie schon mal mit einer Frau zusammengewesen? Bei der Menge ihrer Verehrerinnen - vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie hatte etwas Altmodisches an sich und schien ihren John sehr zu lieben. Hatte sie zumindest Phantasien, was sich mit einer anderen Frau anstellen ließe? Oder läge die ganze Arbeit bei mir, weil sie einen auf Beine-breit-Femme machte? Ich hatte so meine Vorurteile gegenüber den sexuellen Fähigkeiten älterer Heteras.
Oder wollte sie gar keinen Sex, sondern kuscheln? Oder war sie am Ende nur an der intimeren Fortsetzung unserer Unterhaltung aus der Lounge interessiert, was mir auch nur recht gewesen wäre? "Ich geh mir mal schnell die Hände waschen" sagte ich furchtsam, warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und verschwand im Bad. Das müsste sie für echt deutsche Hygiene halten. Wenn ich wieder herauskam, würde ich ja sehen, was für ein Szenario sie für mich bereitet hatte.
Sie saß im Morgenmantel mit einem neuen Glas Rotwein aus der Hotelbar am Fenster und blickte hinaus auf die Lichter Berlins unter ihr. Ihr nacktes Bein, das sie mit dem freien Arm umschlungen hielt, hob sich gegen das erste graue Dämmerlicht ab.
"Wein?" fragte sie. Als sie aufstand, um mir ein Glas zu holen, fiel der Morgenmantel auseinander, und ich erhaschte einen Blick auf schwarze, enganliegende Baumwollunterwäsche. Ihr Haut war weiß und straff, wie der Bauch eines Fisches. Mir war schwindlig vor Andacht. Der Bauch von J. Sie musste lächeln, als sie meine Anspannung sah. "Möchtest du dich hinlegen?" fragte sie. Ich folgte ihr blind und legte mich, so wie ich war, auf ihre Bettdecke. Meine Schuhe hingen über den Bettrand.
Damit war sie verständlicherweise nicht zufrieden. Sie betrachtete mich schweigend, den Kopf in die kleine, grausame Elfenhand gestützt. "Nein, zieh dir was aus - soweit du magst natürlich", entschied sie schließlich. Ich bewunderte sie für ihren Mut. "Ich dreh mich so lange um", fügte sie noch hinzu, als sie sah, dass ich anfing, mir den Pullover über den Kopf zu ziehen. Ich zog mich ebenso aus, bis auf die Unterwäsche, und schlüpfte unter die Decke. J. setzte sich zu mir auf den Bettrand und legte eine warme Hand auf meine Schulter.
"
Ich hab das noch nie gemacht", brach sie schließlich das Schweigen. "Weiß nicht, warum nicht - weiß aber auch nicht wirklich, warum gerade jetzt. Vielleicht fühle ich mich jetzt, bei all diesem Erfolg, sicher genug, um mich auf Glatteis zu begeben. Mit sechzig kann dir nicht mehr allzu viel geschehen. John und ich werden zusammen alt. Es ist alles vorhersehbar, und das gibt mir wohl den Mut, die Seitenpfade zu betreten, die ich aus Gründen der Rationalität mein Leben lang gemieden habe."
Dann legte sie sich zu mir, wandte mir jedoch den Rücken zu. Das irritierte mich anfangs sehr, aber nach einer Weile schmiegte ich mich einfach an ihren schmalen sommersprossigen Rücken. Es ging mir gut. Alles war leicht, einfach und gut. Als ich einen Arm um sie legte, um ihren Halsansatz zu streicheln, sagte sie leise: "Erschrick dich nicht." Natürlich erschrak ich, aber es war auch okay. Ich kannte Frauen mit einer Brust. Wir blieben zusammen, bis die Sonne ins Zimmer brannte. J., ich glaube, für eine Woche war ich in deinem Kopf.


Stephanie Sellier
 
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